Bertrand de Jouvenel – Von der Gerechtigkeit

„Alle klassischen Definitionen bezeugen, daß die Gerechtigkeit als etwas aufgefaßt wurde, was in den Seelen wohnt oder wohnen sollte. So in den Institutionen des Justinian: „Gerechtigkeit ist der beständige und immerwährende Wille, jedem sein Recht zu gewähren“. Die Gerechtigkeit erscheint also hier als ein Zustand des Willens. […]

So wird die Gerechtigkeit als eine in den Gewohnheiten verankerte Bereitschaft des Menschen, als eine Tugend aufgefaßt. Aber die Gerechtigkeit, von der man heute spricht, ist nicht mehr diese Kraft der Seele, sie ist ein Zustand von Sachen. Das Wort vergegenwärtigt dem Verstand nicht mehr eine bestimmte Haltung des Menschen, sondern eine bestimmte Struktur der Gesellschaft; es findet nicht mehr auf Persönliches Anwendung, sondern verweist auf kollektive Einrichtungen. Statt zu meinen, die gesellschaftlichen Verhältnisse könnten durch die Gerechtigkeit der Menschen veredelt werden, denkt man umgekehrt, eine in Institutionen begründete Gerechtigkeit könne die Veredelung der Menschen erzeugen.

Diese Umkehrung gehört zum modernen Denken, welches das Moralische von den äußeren Umständen beherrscht sein läßt.

Die Gerechtigkeit, um die es sich jetzt handelt, ist also nicht mehr ein Habitus, den ein jeder von uns erwerben soll, und zwar um so mehr, je mehr Macht er hat, sondern es handelt sich um ein Organisationsproblem, eine Anordnung von Dingen. Darum findet sich der erste Teil der klassischen Definitionen, der die Gerechtigkeit an den Menschen bindet, in den modernen Forderungen nicht mehr, welche die Gerechtigkeit an die Gesellschaft binden. Man sagt nicht mehr, wie Aristoteles, daß die Gerechtigkeit die sittliche Haltung des Gerechten, noch, wie die Rechtskundigen, daß sie eine bestimmte Willensäußerung sei; denn was hier in den Vordergrund gerückt wurde, war die innere Bereitschaft.

Die Gerechtigkeit, die man jetzt lobpreist, ist nicht mehr eine Eigenschaft des Menschen und der Tat, sondern ein Sachverhalt der sozialen Geometrie, der durch beliebige Mittel erzielt werden kann.“

(Prof. Bertrand de Jouvenel, Über Souveränität – Auf der Suche nach dem Gemeinwohl, Seite 170-171)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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