Beim folgenden Text handelt es sich um meine Mitschrift aus dem Vortrag von Erich Fromm (gest. 1980). Den Vortrag hielt der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe im Jahre 1973. Er ist nachzuhören auf YouTube unter dem folgenden Link: https://www.youtube.com/watch?v=18upm7E6i7o .
»Es ist immer gut sich einmal zu überlegen, was der Titel einer Vorlesung wirklich bedeutet. In diesem Fall heißt er „Psychologie für Nichtpsychologen“.
Was, oder besser, wer sind denn Nichtpsychologen? Und zweitens: Was ist denn Psychologie?
Wer Nichtpsychologen sind, das lässt sich vielleicht oder scheinbar einfach beantworten, nämlich alle Leute die nicht Psychologie studiert haben, die keinen Doktorhut haben, der Ausweis dass sie studiert haben. Dann sind natürlich die meisten Menschen keine Psychologen. Aber das ist doch ein bisschen zu einfach, denn worauf es ankommt ist, dass in Wirklichkeit es Nichtpsychologen überhaupt nicht gibt, da jeder Mensch in seinem Leben Psychologie betreibt, auf seine Weise, und sie betreiben muss. Er muss wissen was in anderen vorgeht. Er muss versuchen andere zu verstehen. Er muss versuchen sogar vorauszusehen wie andere sich verhalten werden. Dazu geht er nicht ins Laboratorium der Universität, sondern dazu geht er nur – und dazu braucht er gar nicht zu gehen – in sein eigenes Laboratorium des täglichen Lebens, in dem alle Experimente und alle Fälle von ihm durchdacht und überlegt werden können.
Das heißt also, die Frage ist gar nicht: Ist einer Psychologe oder ist einer nicht Psychologe? Sondern die Frage ist eigentlich nur: Ist einer ein guter Psychologe oder ein schlechter Psychologe? Und da glaube ich, könnte das Studium der Psychologie ihm dazu verhelfen ein besserer Psychologe oder schlechterer Psychologe zu werden.
Aber da kommen wir nun zu der zweiten Frage: Was ist denn Psychologie? Und diese Frage ist viel schwieriger zu beantworten als die erste und sie wird uns ein bisschen Zeit nehmen.
Wörtlich ist Psychologie die Wissenschaft von der Seele. Psyche ist die Seele und die Logie das Denken, also die Wissenschaft von der Seele. Ja, aber das ist ja sehr schön, so wörtlich zu übersetzen, aber es sagt uns noch sehr wenig, was diese Wissenschaft von der Seele eigentlich ist, was sie zum Gegenstand hat, welche Methoden sie benutzt, was ihr Ziel ist.
Die meisten Menschen denken, dass die Psychologie eine relativ moderne Wissenschaft ist. Und sie denken das hauptsächlich deshalb, weil das Wort Psychologie sich im Großen und Ganzen erst in den letzten 100 Jahren, oder ein bisschen länger, bekannt gemacht hat. Sie vergessen aber, dass es eine Psychologie gibt, die vormodern ist, die sich erstreckt, sagen wir mal, vom Jahr 500 vor Christus bis zum 17. Jahrhundert, wenn wir da eine Person nehmen wie Spinoza. Nur dass diese Psychologie aber sich nicht Psychologie genannt hat, sondern Ethik, oder auch sehr häufig Philosophie. Aber sie war nichts anderes als Psychologie.
Nun ist die Frage, was war denn das Wesen und das Ziel dieser vormodernen Psychologie? Das lässt sich relativ einfach sagen: Es war die Kenntnis der Seele des Menschen, zum Ziel ein besserer Mensch zu werden. Die Psychologie hatte also, wenn Sie so wollen, einen moralischen, sie können auch sagen religiösen, einen spirituellen Zweck oder Ziel.
Ich gebe nur ganz kurz einige Beispiele dieser vormodernen Psychologie: Der Buddhismus hat eine ganz ausgedehnte und höchst komplizierte und interessante Psychologie. Aristoteles hat ein Lehrbuch der Psychologie geschrieben, nur hat er es genannt „Die Ethik“. Die Stoiker haben eine hochinteressante Psychologie entwickelt, manche von Ihnen werden vielleicht Marc Aurelius‘ „Meditationen“ kennen. Sie finden bei Thomas Aquinus ein System der Psychologie, aus dem Sie wahrscheinlich mehr lernen können, als von den meisten Textbüchern der Psychologie heute. Es gibt dort die interessantesten und tiefsten Diskussionen und Prüfungen, solche Begriffe wie Narzissmus, Stolz, Demut, über Bescheidenheit, Minderwertigkeitsgefühle und vieles vieles andere. Und so ist es auch mit Spinoza, der auch eine Psychologie geschrieben hat und sie auch wie Aristoteles „Die Ethik“ genannt hat. Spinoza ist wohl der erste große Psychologe der ganz klar das unbewusste erkannt hat, indem er gesagt hat: „Wir sind uns alle unserer Wünsche bewusst, wir sind uns aber nicht der Motive unserer Wünsche bewusst.“ Und das ist in der Tat, wie wir ein bisschen später noch sehen werden, die Grundlage der viel später kommenden freudschen Tiefenpsychologie.
In der Moderne kommt dann eine ganz andere Psychologie, die im Großen und Ganzen nicht so sehr viel älter als 100 Jahre ist. Deren Ziel ist ein ganz anderes als die Seele zu kennen. Nicht um ein besserer Mensch zu werden, sondern, sagen wir es mal ganz roh und grob, um ein erfolgreicherer Mensch zu werden. Man will sich kennen, man will andere kennen, um besser voranzukommen, um größere Vorteile im Leben zu haben, um andere zu manipulieren, um sich selbst so zu gestalten, wie es am besten ist, wenn man erfolgreich sein will.
Diesen Unterschied zwischen den Zielen der vormodernen Psychologie und der modernen Psychologie, den versteht man nur ganz, wenn man sieht, wie sehr sich die Kultur und die Ziele der Gesellschaft geändert haben. Gewiss waren im klassischen Griechenland oder Mittelalter die Menschen im Großen und Ganzen vielleicht auch nicht so sehr viel besser als wir es heute sind, vielleicht waren sie sogar schlechter in ihrem täglichen Verhalten, aber ihr Leben war doch beherrscht von einer Idee und die Idee war: Das Leben ist nicht lebenswert, nur um sich sein Brot zu verdienen, das Leben muss auch einen Sinn haben, das Leben muss der Entfaltung des Menschen dienen. Und in diesem Zusammenhang steht die Psychologie.
Der moderne Mensch sieht es anders. Er ist nicht so sehr daran interessiert mehr zu sein, als mehr zu haben, mehr zu verbrauchen, eine größere Position zu haben, mehr Geld, mehr Macht, mehr Ansehen. Und wir wissen heute schon, das spricht sich immer mehr herum, man sieht es vielleicht am deutlichsten in dem ökonomisch fortgeschrittensten und reichsten Land der Welt, in den Vereinigten Staaten, dass allmählig immer mehr Menschen anfangen zu zweifeln, ob diese Ziele sie wirklich glücklich machen. [….]«