«Die Vorstellung, die wir uns ‚instinktiv‘ von der Freiheit machen, ist in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Erinnerung; die Erinnerung an den freien Mann, der nicht, wie der Mensch des Naturzustandes eine philosophische Annahme ist, sondern der in den von der Staatsgewalt noch nicht überlagerten Gesellschaften existiert hat. Von ihm leiten wir unsere Vorstellung von den individuellen Rechten her, vergessen aber, wie sie geachtet und verteidigt wurden. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, mit der Staatsgewalt zu leben, daß wir von ihr erwarten, sie müsse sie dekretieren. In der Geschichte waren die Freiheitsrechte aber kein staatlicher Gnadenerweis. Sie sind ganz anders entstanden.
Sie waren – und hier liegt der große Unterschied zu unseren heutigen Vorstellungen – kein allgemeines, auf der Annahme der Menschenwürde beruhendes Prinzip, das die Staatsgewalt bei allen Menschen zu respektieren hatte. Sie waren ein Sonderrecht bestimmter Menschen und das Ergebnis einer Würde, der sie Respekt zu verschaffen wußten. Die Freiheit war eine Tatsache, die sich als subjektives Recht durchsetzte.
Von dieser historischen Grundlage muß ausgegangen werden, wenn das Problem der Freiheit richtig gestellt werden soll.»
(Prof. Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Seite 379)