Buchauszug: José Ortega y Gasset – Überdemokratie / Hyperdemokratie

„Gewiß  wird es niemand beklagen, daß die  Leute sich in größerer Zahl und höherem Maße amüsieren, wenn sie nun einmal Lust und Mittel dazu  haben. Schlimm  ist nur, daß diese Usurpation sich nicht  allein im Bereich der Vergnügungen abspielt und abspielen kann, sondern eine allgemeine Haltung der Zeit ist. So glaube ich — vorwegnehmend, was wir  später sehen werden —, daß die politischen Umwälzungen der jüngsten Jahre nichts anderes als ein Imperium der Massen bedeuten. Die alte Demokratie wurde durch eine kräftige Dosis Liberalismus und Verehrung für das Gesetz gemildert. Wer diesen Grundsätzen diente, war verpflichtet, bei sich selber eine strenge Zucht aufrechtzuerhalten. Unter dem Schutz des liberalen Prinzips und der Rechtsnorm konnten die Minoritäten leben und  wirken.

Demokratie und Gesetz, legale Lebensgemeinschaft, waren Synonyma. Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt.

Es ist falsch, die neue Lage so zu deuten, als sei die Masse der Politik überdrüssig und betraue spezielle Personen mit ihrer Ausübung. Das war früher der Fall, und das war die Demokratie. Damals war die Masse überzeugt, daß schließlich und endlich trotz all ihrer Fehler und Mängel die Politiker etwas mehr von den öffentlichen Fragen verstünden als sie.

Jetzt dagegen glaubt sie, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten. Ich bezweifle, daß es noch eine geschichtliche Epoche gegeben hat, in der die Masse so umweglos regierte wie in unserer Zeit. Darum spreche ich von einer Hyperdemokratie.“

(José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, 1930, Seite 12-13)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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