„Der voranschreitend kollektive Verzicht auf Gott – oder das Göttliche – ist historisch beispiellos. Bislang glaubte der Mensch sich in einem Zusammenhang geborgen, er lebte in der Hoffnung, dass mit ihm etwas gemeint sei. Die transzendenten Angebote der Religionen verlieren aber, zumindest in der westlichen Welt, zunehmend an Reiz oder gar Verbindlichkeit. Rein praktisch hat das mit dem Siegeszug der Medizin und des Sozialstaates zu tun, also dem Sinken der existentiellen Risiken beziehungsweise ihrer sozialtechnischen Abfederung.
Ein beispielloser Zustand wäre hier erreicht, wenn es gelänge, den Schmerz, speziell den seelischen, sinnsuchenden – inklusive Liebe, Zorn und Transzendenzbedürfnis – durch die Entdeckung hirnstruktureller oder biochemischer Auslöser gänzlich abzuschaffen. Einstweilen bleibt die Wende des Sinns freilich offen, wovon die aktuellen Ersatzreligionen zeugen, vom Kult um die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit bis zur grünen Apokalypse.“
(Micheal Klonovsky, in seinem Essay „Tradition und Fortschritt – Leben wir in beispiellosen Zeiten?“, Monatszeitschrift eigentümlich frei, Nr. 124, Seite 33)