„Viele Autoren haben gemeint, jede «metajuridische» Suche nach dem Gerechten sei müßig. Gerecht, sagten sie, sei das, was der bekannten Regel entspricht, ungerecht, was ihr widerspricht. Die Regel sei der Maßstab des Gerechten und des Ungerechten, und man kenne kein Mittel, woran der Maßstab selbst sich messen ließe; es sei unmöglich, zu sagen, eine Regel sei gerecht oder ungerecht; denn womit könne man sie vergleichen, um hier entscheiden zu können?
Diese rein verstandesmäßige Einstellung führt zu sehr verschiedenen Konsequenzen, je nachdem, ob sie von Theologen und Gläubigen oder von ungläubigen Philosophen und Juristen vertreten wird. Untersuchen wir beide Fälle nacheinander. Alle Theologen werden einhellig sagen: «Gerecht ist, was den göttlichen Geboten entspricht, ungerecht, was ihnen widerspricht». Aber die einen meinen, gerecht sei etwas, weil Gott es so gewollt habe, die anderen hingegen, daß Gott es gebiete, weil es gerecht ist. Für diese existiert das Gerechte vor jedem Gebote, sogar vor den Geboten Gottes; für jene erhält das Gerechte erst durch den Willen Gottes einen Sinn. Seine Gebote beschränken sich nicht darauf, uns wissen zu lassen, was gut und was böse ist, sondern sie bestimmen, was von der Erlassung der Gebote an gut und böse sein wird. Da diese Gebote in völliger Freiheit gegeben wurden, hätten sie uns ebensogut etwas gebieten können, was jetzt verboten ist, und verbieten können, was jetzt geboten ist. Er gibt in den vom Allmächtigen gesetzten Vorschriften keinerlei Notwendigkeit; nichts kann Ihn zu etwas bestimmen; Er bestimmt alles. So läßt die Theologie zwei Gesichtspunkte zu, deren Gegensatz von Leibnitz klar formuliert worden ist.
In jedem Falle gebietet Gott, was gerecht ist, es wurde aber entweder geboten, weil es gerecht ist, oder es ist gerecht , weil es geboten wurde. Beide Standpunkte wurden von christlichen Kirchenlehrern vertreten, aber im Christentum überwiegt entschieden der erste Gesichtspunkt, wogegen im Islam der zweite vorherrscht.
In einer gläubigen und tief religiösen Gesellschaft wird der Gedanke, daß die Gerechtigkeit der gesetzten Norm entspricht, notwendig und unmißverständlich die von den göttlichen Geboten abgeleiteten positiven Gesetze bestimmen, denen eine abgeleitete Achtung zu Teil werden wird. Der gleiche Gedanke wird jedoch in einer ungläubigen, zutiefst verweltlichten Gesellschaft ganz andere Folgen zeitigen. Da die Gerechtigkeit nichts anderes ist als die Befolgung von Normen, wird man in einer solchen Gesellschaftsordnung keine Mittel haben, um die Gerechtigkeit der Normen zu beurteilen. Ebenso, wie eine religiöse Gesellschaft die Moral als den Gehorsam gegenüber den vom Allmächtigen in der vollen Freiheit seiner Macht gesetzten Normen aufgefaßt hatte, müßte man jetzt die Moral als den Gehorsam gegenüber den vom Fürsten dieser Welt in der vollen Freiheit seiner Souveränität gesetzten Normen auffassen. Aber dann wäre das Gerechte, je nach den vom Souverän veranlaßten Veränderungen, wechselnd statt unveränderlich zu sein und genau bekannt infolge der über die göttlichen Gebote betriebenen Kasuistik.
Diese These wird von Hobbes vertreten und von Leibniz bekämpft. Es ist hier nicht der Ort, sich über diesen großen Gegenstand, der nicht der unsere ist, zu verbreiten; es sei denn, um hervorzuheben, daß man sich auf starke Gewährsmänner berufen kann, wenn man jegliche Behauptung in der Form: «diese oder jene Norm ist ungerecht» für sinnvoll erklärt, weil es keinen anderen Maßstab der Gerechtigkeit gebe als eben die Norm.
Es ist jedoch eine feststellbare Tatsache, daß die Menschen geltende Normen immer wieder mit der Begründung angreifen, sie seien ungerecht. Darauf antworten dann unsere Zeitgenossen, daß die Menschen die Normen, die ihnen mißfallen, als ungerecht bezeichnen, und daß das, was sie gerecht nennen, bloß das ist, was sie wollen; «gerecht» sei bloß der Ehrenname, den sie ihren eigenen Wünschen verleihen, und ihre Vorstellungen vom Gerechten seien ebenso verschieden wie ihre Neigungen. Woraus man schließt, daß es sich nur um die Verfolgung eines Wahngebildes handelt, weil ein jeder das «gerecht» nennt, was ihm zusagt.“
(Prof. Bertrand de Jouvenel, Über Souveränität – Auf der Suche nach dem Gemeinwohl, Seite 177-179)