Buchauszug: Bertrand de Jouvenel – Der Preis der Freiheit

»Der Preis der Freiheit

Die Sprache besitzt die eigenartige Fähigkeit, mehr auszudrücken, als der Sprechende klar zu erkennen imstande ist. Wir sagen, die Freiheit sei das kostbarste Gut, ohne darauf zu achten, wieviele gesellschaftliche Gegebenheiten sich in dieser Formel widerspiegeln.

Ein Gut, dessen Preis hoch ist, braucht kein existenzielles Bedürfnis zu sein. Das Wasser hat keinen Preis, Brot keinen sehr hohen. Ein Gemälde von Rembrandt ist teuer, wird aber trotz seiner Kostbarkeit nur von wenigen erstrebt, und niemand würde sich das Geringste aus ihm machen, wenn ihm die Umstände Wasser und Brot verweigerten.

Die kostbarsten Dinge haben folglich die Doppeleigenschaft, nur von wenigen Menschen ernsthaft begehrt zu werden und es nur dann zu sein, wenn die Primärbedürfnisse in hohem Maße befriedigt sind. Unter diesem Aspekt muß auch die Freiheit betrachtet werden. Eine Metapher wird vielleicht helfen, sie besser zu kennen.

Ein Mensch irrt durch den Dschungel, für seine Nahrung ist er auf den unsicheren Jagderfolg angewiesen, sein Leben wird ständig von wilden Tieren bedroht. Eine Karawane kommt vorüber; er schließt sich ihr an und überläßt sich glücklich der Sicherheit der großen Zahl und dem Überfluß an Nahrungsmitteln. Als botsmäßiger Diener des Anführers erreicht er unter seinem Schutz die Stadt, genießt zunächst ihre Annehmlichkeit, erkennt aber eines Tages, rasch an die Sicherheit gewöhnt, daß er Sklave ist; er möchte frei sein. Er wird es schließlich auch. Plötzlich aber dringen nomadische Stämme in die Stadt ein; sie erobern, plündern, brennen und morden. Unser Mensch flieht auf das Land und findet in einer Burg Aufnahme, deren Herr Tiere und Menschen beschirmt: Er widmet seine ganze Arbeitskraft seinem Beschützer als Preis für das gerettete Leben. Ein starker Staat indes stellt die Ordnung wieder her, und unser Mensch beklagt sich bald über die grundherrliche Fron; er löst sie durch Tributzahlungen ab, die er schrittweise verringert, und möchte freier Grundeigentümer werden. Oder aber er wandert in eine Stadt, um seine Arbeitskraft dort nach eigenem Willen zu verkaufen oder um ein Handwerk auszuüben. Eine ökonomische Krise tritt auf.  Er vermag – sei es als Bauer, sei es als Unternehmer – nicht zu dem kalkulierten Preis zu verkaufen. Ist er Arbeiter, setzt man ihn auf die Straße. Er wird sich nunmehr einen Chef suchen, der ihm die Regelmäßigkeit seines Unterhalts garantiert, sei es, daß man ihm eine bestimmte Menge seines Produktes zu bestimmten Preisen abnimmt, sei es, daß man ihm Sicherheit seines Arbeitsplatzes und seines Lohnes garantiert.

So erlischt der Wille frei zu sein bei der Person unseres Beispiels immer dann, wenn sie selbst in Gefahr gerät, um neu zu entstehen, sobald das Sicherheitsbedürfnis befriedigt ist. Die Freiheit ist nur ein sekundäres Bedürfnis im Verhältnis zum Primärbedürfnis der Sicherheit.«

(Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Seite 403-404)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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