„Die Entwicklung der gesetzgebenden Gewalt
Es leuchtet ein, daß die Staatsgewalt eine ganz andere Rolle in der Gesellschaft spielt, je nachdem, ob sie Gesetze machen kann oder nicht, ob sie Verhaltensnormen diktiert oder sich damit begnügt, ihnen Respekt zu verschaffen.
Sobald wir in einem bestimmten Zeitpunkt ihrer historischen Entwicklung feststellen, daß die Staatsgewalt unter Partizipation des Volkes oder einer gesetzgebenden Versammlung Gesetze macht und sie nur auf Grund dieser Partizipation zu machen imstande ist, interpretieren wir für gewöhnlich diese Rechte des Volkes oder der Versammlung als Restriktionen der Staatsgewalt, als Schwächung eines ursprünglichen Absolutismus.
Aber dieser ursprüngliche Absolutismus ist reine Legende. Die Ansicht, man habe einen Zustand verlassen, in dem die Magistrate, der Monarchie Verhaltensnormen aus eigener Machtvollkommenheit diktiert hätten, ist falsch. Richtig ist, daß sie dieses Recht oder besser gesagt, diese Macht, niemals besaßen.
Nur eine irrige Vorstellung von der Frühzeit der Gesellschaften kann zu der Annahme verleiten, ein Mann oder mehrere Männer hätten es als Inhaber einer faktischen Autorität vermocht, den Untertanen Verhaltensweisen zu oktroieren, die einen Bruch mit dem System von Glaubenshaltungen und Einstellungen bedeutet haben würden. Sie sind im Gegenteil selbst Gefangene dieses Systems gewesen.
Die Partizipation des Volkes oder der Volksversammlung erlaubt im Gegenteil erstmals der Regierung, ihre Aktivität zu erweitern. […]
Die Gesetzgebungskompetenz ist nicht ein der Staatsgewalt durch Institutionalisierung einer Volksversammlung oder einer Volksbefragung entrissenes Attribut, sie ist eine Bereicherung der Staatsgewalt, so neu, daß sie nur durch eine solche Institutionalisierung möglich wurde. […]
Der Gedanke, der gesetzgeberische Wille könne jeden Augenblick die Rechte und mit ihnen die Verhaltensmodelle der Bevölkerung in Frage stellen, ist nicht auf die Laune eines legendären Despoten, sondern auf die Institutionen der repräsentativen oder direkten Demokratie zurückzuführen. Um dahin zu gelangen, mußte gegenüber der göttlichen Autorität, die dieses Recht ursprünglich diktiert hatte, die gesellschaftliche Autorität entstehen.
Der Gedanke, die Gesellschaft solle die für alle verbindlichen Verhaltensregeln selbst erarbeiten, kann um so früher wirksam werden, je geringer der von der göttlichen Autorität gestützte Anteil am Recht ist, und erst in der rationalistischen Krise, die sich in der Geschichte jeder Zivilisation findet, vermag er sich voll durchsetzen.
Die rationalistische Krise und die politischen Folgen des Protagorismus
Jede Zivilisation fürchtet in ihrer Jugend die übernatürlichen Mächte, verehrt die Ahnen und bleibt ihren Bräuchen treu. Träumt sie von einer besseren Welt, dann liegt diese stets in der Vergangenheit, und das sicherste Anzeichen für ihre Weiterentwicklung ist die Angst vor Degeneration.
Aber es kommt ein Zeitpunkt, in dem sich die Zivilisation im Vertrauen auf ihre Aufklärung vornimmt, ihr Verhalten selbst zu regeln, um ein Maximum an Nutzen hervorzubringen, und nicht einen Augenblick daran zweifelt, auf diese Weise das goldene Zeitalter zu erreichen, das sie jetzt in die Zukunft projizieren. Ganz mit dem Fortschritt beschäftigt, verschwendet sie keine Sorge mehr darauf, das Erworbene zu bewahren, und zuweilen verliert sie sich an übertriebene Hoffnungen. […]
Korrelation oder Koinzidenz, die abstrakte Intelligenz beginnt in diesem Stadium ihr altes Werk zu zerstören. Zunächst hatte sie es als ihre Aufgabe angesehen, den Begriff der natürlichen Ordnung zu präzisieren, die Rationalität im Seienden zu begreifen, und aufzuzeigen, was der Mensch – material wie moralisch – gewinnen kann, wenn er sich unter gute Gesetze beugt.
Jetzt macht sie eine Wende und stellt in Frage, was sie vorher behauptet hat. […]
Die rationalistische Krise, so haben wir behauptet, stelle sich in jeder Gesellschaft ein, die ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht hat. Ihre historische Bedeutung wird allgemein erkannt, ihre Wirkung häufig aber falsch interpretiert, weil sich die Analyse auf die unmittelbaren Folgen beschränkt.
Es wird die Auffassung vertreten, der Aberglaube sei eine Stütze des Thrones gewesen; der rationalistische Angriff habe aber die Staatsgewalt erschüttern können, da er ihr die Stützen wegzog, die ihr dieser Glaube verlieh.
So einfach liegen die Dinge jedoch nicht.Die Gemeinsamkeit im Glauben war ein mächtiger Faktor gesellschaftlichen Zusammenhalts, der den Institutionen und den Verhaltensweisen Festigkeit verlieh. Er gewährleistete eine Sozialordnung, die ihrerseits Gegengewicht und Stütze der politischen Ordnung war, deren Existenz, in der Autonomie und Unantastbarkeit des Rechts manifest, die Staatsgewalt von einem Teil ihrer ungeheuren Verantwortung entlastete und ihr unüberwindbare Schranken setzte.
Sollte das Zusammentreffen von Glaubenskrise und Entstehen absoluter Monarchien im 16., 17. und 18. Jahrhundert nur zufällig sein? Hätten sie ohne diese Krise entstehen können? Das große Jahrhundert des Rationalismus ist gleichzeitig dasjenige der aufgeklärten Despoten, die ungläubig und überzeugt vom bloß konventionalen Charakter der Institutionen meinen, sie dürften und müßten die Rechtsordnung ihrer Völker nach den Grundsätzen der Vernunft neu gestalten, und die Verwaltung und Polizei ausbauen, um dieses Ziel zu erreichen und den Widerstand dagegen zu brechen.
Der Herrscherwille glaubte sich fähig, alles neu zu ordnen, die gesetzgebende Gewalt dehnte sich aus, das „alte und gute Recht“ bestimmte nicht länger die staatlichen Vorschriften, deren Summe man in Zukunft als Recht bezeichnen wird.
Kein Ereignis in der Geschichte war der Ausdehnung der Staatsgewalt förderlicher.
[…] nachdem der Mensch einmal „zum Maß aller Dinge“ geworden war, gab es das „Wahre“, das „Gute“, das „Gerechte“ nicht mehr, es gab nur noch gleichwertige Meinungen, deren Konflikt durch politische oder militärische Stärke entschieden werden mußte; jede siegreiche Partei wird ihre eigene Vorstellung vom „Wahren“, „Guten“, „Gerechten“ inthronisieren, die sich nur so lange halten vermag wie sie selbst.“
(Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Seite 248-253)