Recht und Verfassung im Mittelalter, so heißt das kleine Büchlein des deutschen Historikers Prof. Dr. Fritz Kern (1884-1950), das sich mit der tradierten germanisch-abendländischen Rechtsauffassung beschäftigt bzw. selbige bemüht ist darzustellen. Für Leser mit Interesse für die Materie ist es eine wahre Fundgrube, auch wenn bei mangelndem Fachwissen das Lesen streckenweise recht schwer fällt. Leider ist das Urheberrecht an diesem Werk erst 2020 abgelaufen, sonst hätte ich einen uneditierten Netzfund gern aufbereitet und als PDF ins Angebot genommen.
Bevor ich zum eigentlichen Thema dieses Beitrages komme, möchte ich einiges im Voraus festhalten: Es ist wichtig zu wissen welche traditionelle Rechtsauffassung hier (auf germanischem Boden) über viele Jahrhunderte lang herrschte, bis den ersten Herrschern einfiel sich doch selbst zum Souverän über Recht und Gesetz zu machen. Herr Prof. Dr. Kern lässt bereits zu Beginn seiner Abhandlung keinen Zweifel daran, welche Eigenschaften das Recht nach tradiertem germanisch-abendländischen Befinden haben musste (im Gegensatz zu heute):
„Für uns hat [heute] das Recht, damit es gelte, nur eine einzige Eigenschaft nötig: die unmittelbare oder mittelbare Einsetzung durch den Staat. Dem mittelalterlichen Recht dagegen sind zwei andere Eigenschaften anstatt dieser einen wesentlich: es ist „altes“ Recht und es ist „gutes“ Recht. Dagegen kann es das Merkmal der Einsetzung durch den Staat entbehren. Ohne jene zwei Eigenschaften des Alters und des Gutseins, die, wie wir sehen werden, merkwürdigerweise eigentlich nur für eine einzige und einheitliche Eigenschaft gehalten wurden, ist Recht kein Recht, selbst wenn es vom Machthaber in aller Form eingesetzt sein sollte.“
Und auch zum Ursprung dieses alten und guten Rechts findet der Professor klare Worte:
„Nicht der Staat, sondern ‚Gott ist der Anfang alles Rechts‘. Das Recht ist ein Stück der Weltordnung; es ist unerschütterlich. Es kann gebeugt, gefälscht werden, aber dann stellt es sich selbst wieder her und zerschmettert zuletzt doch den Missetäter, der es antastete.“
und
„Gott ist der einzige Gesetzgeber im vollen und wahren Sinne des Worts.“
Das dieses göttliche Recht ewig gilt und bewahrt werden muss, versteht sich zwar von selbst, ist aber natürlich auch in der germanisch-abendländischen Tradition verankert.
„Das zeitlos Starre, Apriorische der Ethik, nicht das Werden, sondern das Soll beherrscht ihre Anschauung von menschlichen Dingen. Diese Grundform des gebildeten Denkens im Mittelalter verbindet sich leicht mit der germanischen volkstümlichen Gewohnheit, das Recht als alt und bleibend, als ruhend und in seiner Ruhe zu schützend anzunehmen. Germanische Volksüberlieferung und kirchlich-ethische Bildung vereinigen sich, um einen beharrenden, rein verteidigungshaften, nicht vorantreibenden, sondern in die Unveränderlichkeit des Zeitlosen zurückgezogenen Rechtsbegriff zu schaffen“
Und vollkommen nachvollziehbar und natürlich erscheint dann auch die Tatsache, dass dieses ewige, unveränderliche und göttliche Recht über allem steht – also souverän ist – und nicht der Herrscher.
„Man kann für die […] Bindung des mittelalterlichen Herrschers ans Recht drei Quellen namhaft machen, die germanische, schon von Tacitus bezeugte Gewohnheit, das stoische, durch die Kirchenväter überlieferte Naturrecht und den christlichen Gedanken, daß jede Regierung Gottes Stellvertreterin und Vollzugsorgan sei. Das Recht steht über allen Menschen, auch über dem Herrscher:
‚Nieman ist so here, so daz reht zware‚.“
Aufmerksam mitlesende Salafisten werden wahrscheinlich schon bemerkt haben worauf ich hinaus will: Diese tradierte Rechtsauffassung ist uns fundamentalistischen Radikalislamisten nicht fremd, denn sie scheint der unsrigen vollends zu gleichen. Doch waren die bisherigen kurzen Auszüge aus dem Büchlein ja nicht der Hauptgrund für diesen Beitrag, sie waren bloß wichtiges und erklärendes Beiwerk für den folgenden Auszug, der auch den Bezug zum Beitragstitel herstellt. Er berührt eine Thematik die in heutiger Zeit für viel böses Blut innerhalb der muslimischen Gemeinschaft sorgt. Es geht nämlich um den Herrscher, der nicht mit dem präexistenten Recht herrscht, sondern dieses gegen ein positives Recht (also menschgemachtes, sprich: Unrecht) ausgetauscht hat und wie mit diesem Herrscher umzugehen ist. Prof. Dr. Fritz Kern schreibt dazu folgendes:
„Da das (göttliche) Recht schlankweg, nicht positives [sprich: menschgemachtes] Recht war, machte es für seinen Gehalt und seine Gültigkeit nichts aus, ob die Staatsgewalt es kannte und anerkannte. Um so schlimmer für die Staatsgewalt, wenn sie das Recht verkannte! Es mochte also der Fall eintreten (und ist oft eingetreten), daß ein einzelner Volksgenosse das Recht erkannte oder zu erkennen glaubte, während die Staatsgewalt es angeblich oder in Wahrheit verkannte. Da aber die Staatsgewalt nur ist durch und für das Recht und nur Obrigkeit ist, insofern sie das Recht spendet und verwaltet, so hört die Obrigkeit, die sich an das Unrecht gebunden hat, auf, Obrigkeit zu sein, für den Mann, der sich an das Recht gebunden weiß. Das Recht ist der Souverän, und jene Obrigkeit Tyrannei, d.h. nichtig. Der Einzelne kämpft dann mit Fug und Recht gegen den angemaßten Träger der Staatsgewalt, der zu dem betreffenden besonderen Unrecht noch das allgemeine fügt, sich widerrechtlich als Obrigkeit aufzuführen, während doch der aufhört rex zu sein, der das Recht (rectum) nicht achtet.“
(Text in [eckigen Klammern] von mir)