Es gibt keinen anderen nichtmuslimischen Autor, dessen Werke ich ausgiebiger und mit solcher Hingabe studierte, wie diejenigen des Wissenschaftlers und Philosophen Prof. Bertrand de Jouvenel. Sicherlich könnte ich nun versuchen in Worte zu fassen, was die Faszination für diesen großen Denker ausmacht. Viel besser jedoch als ich, kann dies die Eminenz des klassischen Liberalismus in Deutschland, Prof. Dr. Gerd Habermann, der für seine de Jouvenel-Publikation „Die Ethik der Umverteilung“ (2012) eine umfassende Würdigung de Jouvenels verfasste. Das Folgende ist ein Auszug aus dieser Würdigung:
IV. Gegen die Metaphysik des sozialen Rationalismus
[…] Es sei eine Torheit unserer Zeit, dem Individuum eher die Forderung vor Augen zu führen, die es gegen die Gesellschaft besitze, als die Schuld, in der es ihr gegenüberstehe. Der bewusste Mensch erkennt sich als Schuldner und seine Handlungen werden ihm von einem tiefen Gefühl der Verpflichtung eingegeben (1963, S. 303). Der Mensch sei nur frei, insoweit er selber Richter über seine Verpflichtungen ist und sich selber zwinge, sie einzuhalten.
«Man ist frei, wenn man sponte sua handelt, in Vollziehung eines in foro interno erlassenen Befehls.»
(ebenda)
Von diesen Überlegungen her kommt de Jouvenel zur Kritik an rationalistischen Theorien vom „Gesellschaftsvertrag“. Diese Theorien verkörpern nach de Jouvenels Ansicht die Meinungen kinderloser Männer, die offenbar ihre eigenen Kindheit vergessen hätten. Ein Gemeinwesen werde nicht wie ein Club gegründet.
«Man kann fragen, wie sich die verwegenen, umherziehenden Erwachsenen dieser Theorie die Vorteile einer zukünftigen Solidarität vorstellen könnten, wenn sie nicht die Wohltaten einer wirklichen Solidarität während ihrer Jugend erfahren hätten, oder wie sie sich durch den bloßen Austausch von Versprechen verpflichtet fühlen könnten, wenn die Existenz der Gruppe nicht in ihnen den Begriff der Verpflichtung geschaffen hätten.»
(1967, S. 65/66)
Der Mensch werde als Abhängiger geboren und handle in einer schon struktuierten Umgebung – diese Sätze besitzen für de Jouvenel die Kraft und den Wert von Axiomen (1967, S. 67)
Der individualistische Freiheitsbegriff im Sinne der Hobbes oder Descartes führe zu einer Störung der sozialen Ordnung: Das Individuum befinde sich unter der Annahme dieser Theorie in einer künstlichen Opposition gegen alles, was ihn erst zum Sozialwesen bändige. Der soziale Rationalismus und „falsche Individualismus“ – um mit von Hayek (1976) zu sprechen – zerstöre die soziale Kohäsion und entfessele den Staat.
Man könne, so meint de Jouvenel, die totalitären Regime nicht verurteilen, ohne mit ihnen auch die „destruktive Metaphysik“ zu verurteilen, die ihr unausweichliches Erscheinen möglich gemacht habe:
«Sie wollen in der Geschichte nur den Staat und das Individuum sehen. Sie verkannte die Rolle moralischer Autoritäten und aller jener intermediären gesellschaftlichen Mächte, die den Menschen einrahmen, beschützen und lenken. Sie hat nicht vorausgesehen, dass die Zerstörung dieser Hindernisse und Bollwerke die Regellosigkeit egoistischer Interessen und blinder Leidenschaften verursachen würde, die eine unheilvolle Tyrannei unvermeidlich erscheinen lassen.»
(1972, S. 447)
An genau diese Überlegungen knüpfen auch die sozialen Integrationslehren von Alexander Rüstow oder Wilhelm Röpke an (vgl. Habermann, 1994, besonders S. 390).
Literatur: Jouvenel, Bertrand de (1963), Über Souveränität, Neuwied Jouvenel, Bertrand de (1967), Reine Theorie der Politik, Neuwied Jouvenel, Bertrand de (1972), Über die Staatsgewalt - Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Freiburg Hayek, Friedrich August von (1976), Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl., Salzburg Habermann, Gerd (1994), Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwegs, Berlin