Buchauszug: Herman Heinrich Frank – Das Abendland und das Morgenland (1901)

„Hat Geschichte überhaupt einen Sinn, und stellt die Anreihung der großen geschichtlichen Tatsachen überhaupt die Entwickelung einer Idee dar, so kann der islamischen Bewegung wegen der Kraft und Energie ihres Gesamtauftretens und wegen der Unwiderstehlichkeit und dem Ernste, mit dem sie den einzelnen ergreift, und der Treue und Opferwilligkeit, mit der wiederum der einzelne den Islam ergreift — so kann — sagen wir — im Hinblick auf diese unleugbaren Tatsachen, dem Islam nur die höchste Beachtung entgegengebracht werden.

Trotzdem fehlt es in Europa ebenso an jeder Achtung wie jeder tieferen Kenntnis des Islam, und man scheint auch in gebildeten Kreisen froh, die ganze Sache mit einigen traditionellen Redensarten abmachen zu können, unter denen in vorderster Linie die Überzeugung prangt von einer Art Instinkt oder einer dem Orient aber eigenen Apathie und stumpfen, dumpfen Ergebung und von einem werkheiligen Formelkram, wodurch sich der Orientale die sinnlich ausgemalten Freuden des Paradieses sicher zu erobern hofft.

Geht man der Sache indes näher auf den Grund, so ist folgendes ins Auge zu fassen. Denkt man sich in irgend einem vom Lichte der Kultur scharf beleuchteten Punkte die einzelnen Tatsachen, aus denen wir eine uns fremde Religion zu begreifen streben, als divergierende Linien, so können wir dieselben rückwärts und zurückgeführt denken bis auf einen Punkt, wo sie sich schneiden. Und ziehen wir diese Linien aus der ganzen großen stattlichen Gesamterscheinung des Islams rückwärts nach dem Schnittpunkt, so kann dieser schließlich doch kein Phantom, keine einfache Betrügerei, keine plumpe, als übernatürlich angegebene Erfindung sein, sondern eine Realität, eine Kraft, die offenbar stark genug war, ihre Ausstrahlung von einem kleinen Punkte intensiv und extensiv in die Zeit und über einen Raum zu verbreiten. Nun wird, mit einer unredlichen Verschweigung aller der Tatsachen, mit denen die Christen ihren Glauben verbreiteten, dem Islam sehr übel genommen, daß er mit dem Schwert seinen Eroberungszug nördlich und südlich an den Küsten des Mittelmeeres genommen hat.“

(Herman Heinrich Frank, Das Abendland und das Morgenland: Eine Zwischenreichbetrachtung…, Verlag: H.S. Nachfolger, ©1901)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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