Buchauszug: Hermann Graf Keyserling – Der Demokratismus des Islam (1919)

„Unausgesetzt beschäftigt mich das Problem, woher dem Islam seine formende Kraft kommt, die soviel größer scheint, als die aller anderen Religionen. Die Reflexion auf das extrem Demokratische mohammedanischer Verbände hat mich heute endlich, wenn ich nicht irre, auf die richtige Spur gebracht. Der Demokratismus des Islam erklärt seine Werbekraft, zumal in Indien, wo Bekehrung zu ihm die einzige Möglichkeit bezeichnet, der Kastenbestimmtheit zu entrinnen ; und hier handelt es sich um echte Gleichheit — weit mehr so, als in den Vereinigten Staaten Amerikas —, denn die Muslime gelten nicht bloß, sondern halten sich wirklich für Brüder, unbekümmert um Rasse, Vermögen und Position. Aber dieser Demokratismus ist kein Letztes ; er ist die Wirkung einer tieferliegenden Ursache, und die scheint mir den Schlüssel zu bieten zu allen Rätseln der Vorzüge des Mohammedanerglaubens. Der Islam ist die Religion absoluter Hingebung. Was Schleiermacher als Wesen aller Religiosität bezeichnete, definiert tatsächlich die des Muselmanns.

Dieser fühlt sich jederzeit in der absoluten Gewalt seines göttlichen Herrn, und zwar in dessen persönlicher Gewalt, nicht in der seiner Minister und Knechte ; er steht ihm jederzeit Auge in Auge gegenüber. Dies bedingt denn das Demokratische des Islam : in allen absoluten Monarchien herrscht bis zur Stufe des Throns der Geist der Gleichheit; von allen Ländern Europas war das Rußland von gestern das demokratischeste, weil gegenüber der absoluten Gewalt des Zaren alle Unterschiede zwischen den Untertanen geringfügig erschienen. Aber es gibt Autokratien verschiedenen Geistes; je nach der Art des Herrschers erscheinen sie stark oder schwach. So beruht die einzigartige Gestaltungskraft des Islam auf dem einzigartigen Charakter seines Gottes. Allah, weit mehr als Jehovah, weit mehr als der Christengott, verdient den Namen eines Herrn der Heerscharen ; er ist Autokrat im Sinne eines Generals, nicht eines Tyrannen. Hiermit hätte ich es denn: der Mohammedanerglaube bedeutet, als einziger der Welt, recht eigentlich militärische Disziplin. […]

Nun wird keiner bestreiten, daß die Bewußtseinsform des gutgedrillten Soldaten von allen die größte Leistungsfähigkeit sichert überall, wo es sich um Ausführen, nicht um Ausdenken handelt. Die islamische Welt stellt eine einzige Armee dar von einigem, ungebrochenem Geist. Solch‘ ein Geist schmilzt auf die Dauer alle Unterschiede ein ; er macht alle zu Kameraden. Im Islam hat er alle Rassendifferenzen eingeschmolzen. Der Ritualismus dieses Glaubens hat einen anderen Sinn, als der von Hinduismus und Katholizismus ; es handelt sich um Objektivierungen der Disziplin. Wenn die Gläubigen täglich zu bestimmten Stunden in der Moschee in Reihe und Glied ihre Gebete verrichten, alle gleichzeitig gleiche Gebärden vollführend, so geschieht dies nicht, wie im Hinduismus, als Mittel zur Selbstverwirklichung, sondern in dem Geist, in welchem der preußische Soldat vor seinem Kaiser vorbeidefiliert. Diese militärische Grundgesinnung erklärt alle wesentlichen Vorzüge des Muselmanns.“

(Hermann Graf Keyserling, Das Reisebuch eines Philosophen, 1919, Seite 179-180)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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