»Das moderne wissenschaftliche Erkennen bringt uns in den ständig wachsenden Besitz von Wissen und Können. Unter dem suggestiven Eindruck dieser Erfolge sieht der unkritische Verstand in dem, was er erkennen und machen kann, alles, was ist. Existenz und Transzendenz sind ihm inexistent, ein Nichts – von dem trunkene Philosophen in Begriffskonstruktionen unverständlich reden.
Überträgt der unkritische Verstand seine Weise des Wissens und Könnens in der Welt auf das Ganze der Welt, dann macht er sich ein vermeintlich wissenschaftliches Weltbild. Die Folge ist die Entzauberung der Welt durch den Wissenschaftsaberglauben. Ein wissenschaftliches Weltbild gibt es nicht. Zum erstenmal in der Geschichte haben wir heute durch die Wissenschaften selber völlige Klarheit darüber. Früher waren Weltbilder, die das Denken ganzer Zeitalter beherrschen konnten, wundersame Chiffern, die uns heute noch ansprechen. Das sogenannte moderne Weltbild dagegen, begründet auf die Denkungsart, die in Descartes repräsentiert ist, das Ergebnis einer Philosophie als Pseudowissenschaft, hat nicht den Charakter einer Chiffer für Existenz, sondern einer mechanischen und dynamischen Apparatur für den Verstand.
Die Welt, in der wir wissenschaftlich erkennen, und die als Ganzes uns nie zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann, ist für das Erkennen zerrissen, wie sie auch immer unter Ideen von Einheiten, in unendlichem Fortschreiten in sie eindringend, erforscht werde. In kritischer Wissenschaftlichkeit leben wir ohne Weltbild. Existentiell haben wir alle möglichen Weltbilder innerhalb der vieldeutigen Chiffernsprache zur Verfügung.
Wenn ein Theologe ein modernes Weltbild anerkennt, das nicht rückgängig zu machen sei (da er Wissenschaft und wissenschaftsabergläubische Denkungsart nicht unterscheidet), dann kann er auf den Gedanken kommen, den […] Glauben zu entmythologisieren, um Schwierigkeiten für den modernen Menschen aus dem Weg zu schaffen. Seine Meinung ist, das ihm bei seiner Entmythologisierung Übrigbleibende des Glaubens […] sei so zu retten. Seine Entmythologisierung wird nicht zu Ende geführt, weil durch einen Willkürakt seines Glaubens das [Übriggebliebene] kein Mythos sein soll. Im ganzen aber raubt uns diese Entmythologisierung alle Mythenwelt, das heißt das Reich der Chiffern überhaupt, nimmt unserer Existenz die Sprache der Transzendenz in ihrem ganzen Reichtum und ihrer Vieldeutigkeit.«
(Quelle: Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1962, S. 434-435)