„Die Realität des muslimischen Lebens scheint heute sehr weit entfernt zu sein von den optimalen Möglichkeiten, wie sie in den religiösen Lehren des Islam angelegt sind. Alles, was im Islam Fortschritt und Bewegung war, wandelte sich unter den Muslimen zu Trägheit und Stagnation; was früher Edelmut und Bereitschaft zur Selbstaufopferung war, ist heute unter den Muslimen zu Engstirnigkeit und Genusssucht verkommen.
Ich war so verblüfft über das offensichtliche Missverständnis zwischen einst und jetzt, dass ich versuchte, mich dem Problem von einem vertrauteren Gesichtspunkt zu nähern; anders ausgedrückt: Ich stellte mir vor, ich gehöre zum Kreis des Islam. Es war ein rein geistiges Experiment; und sehr schnell erkannte ich die richtige Lösung. Ich begriff, dass es nur einen einzigen Grund für den sozialen und kulturellen Verfall der Muslime gab: Sie hatten immer mehr aufgehört, den Lehren des Islams auch im Geiste zu folgen. Der Islam war immer noch da; aber war ein Körper ohne Seele. Gerade das Urelement, das einst die muslimische Welt stark machte, war nun für ihre Schwäche verantwortlich. Die islamische Gesellschaft stand von Anfang an allein auf religiösen Fundamenten und die Schwächung dieser Grundlage schwächte notwendigerweise auch die kulturelle Struktur; möglicherweise war dies auch der Grund dafür, dass sich diese endgültig auflöste.
Je mehr ich verstand, wie konkret und immens lebensnah die Lehren des Islam sind, desto drängender fragte ich, warum die Muslime aufgehört hatten, seine Lehren im realen Leben anzuwenden. Ich erörterte diese Frage mit vielen denkenden Muslimen in fast allen Ländern zwischen der Libyschen Wüste und dem Pamir, zwischen dem Bosporus und dem arabischen Meer. Das Problem wurde fast zu einer Besessenheit, die am Ende all meine anderen geistigen Interessen in der Welt des Islam in den Schatten stellt. Das Fragen wurde immer nachdrücklicher – bis ich, ein Nichtmuslim, zu Muslimen sprach, als würde ich den Islam vor ihrer Nachlässigkeit und Trägheit verteidigen. Diese Entwicklung nahm ich nicht wahr, bis eines Tages – es war im Herbst 1925 in den Bergen Afghanistans – ein junger Provinzgouverneur zu mir sagte: „Aber du bist ein Muslim, nur du selbst weißt es nicht.“ Ich war von diesen Worten betroffen und schwieg. Aber als ich im Jahre 1926 wieder nach Europa zurückkam, erkannte ich, dass es nur eine logische Konsequenz aus meinem Verhalten geben konnte: den Islam anzunehmen.“
(Leopold Weiss – Islam am Scheideweg, Edition Bukhara, Seite 20-21)