„Gegen unseren Ansatz, das arabische Geschichtsbewußtsein sehe den Beginn der arabischen Geschichte in der Entstehung des Islams, läßt sich natürlich einwenden, daß es Christen „arabischer Nation“ gibt, daß diese Nichtmuslime sich (heute) durchaus als Araber fühlen und von den Muslimen (unter Gesichtspunkten heutiger Politik) als Araber anerkannt werden. Wird der Begriff Nation im westlichen Sinne verstanden, so ist das richtig. Ein Teil dieser Christen stammt aus alten, geschichtsbewußten Familien, die auf vorislamische Zeit zurückschauen. Das gibt manchen von ihnen gegenüber den islamischen Nachbarn ein besonderes Bewußtsein von Überlegenheit, das sich gleichsam auf ein Erstgeburtsrecht des Christentums gegenüber dem Islam beruft.
Gewiß, es gab vor dem Islam schon Menschen arabischer Zunge, ja Stämme, die von der Weltgeschichte beachtet wurden, wiewohl sie in ihr ein beschattetes Dasein führten, das nur blitzartig und wieder einmal erhellt wurde. Wir nannten schon Tadmur (Palmyra). Doch ist nicht ersichtlich, daß sie sich je als Glieder eines „arabischen Volkes“ gefühlt hätten, und sie konnten das gar nicht, weil arabisches Gemeinschaftsbewußtsein damals nicht über den Stamm, allenfalls über den Machtbereich einer Herrscherfamilie hinausreichte. Wann im Lauf der Geschichte wurde zum erstenmal „wir Araber“ gesagt? Nicht früher als an dem Tage, da die einander bis dahin bekämpfenden Stämme, in der starken Hand eines Glaubens zusammengefaßt, voll bewußt auf ein gemeinsames Wahrzeichen hinschauten: den vom Propheten selbst immer wieder so benannten „arabischen Koran“. Es ist ein Sendungsbewußtsein, die Bezogenheit auf einen gemeinsamen geistlichen Besitz, der zwar der gesamten Welt gehören konnte und sollte und dennoch dem Geiste nach, auf jeden Fall aber in seiner Ausdrucksart etwas wesentlich Arabisches war.
Kein Muslim bestreitet, daß dem Islam das Christentum zeitlich vorausging. Der Islam faßt sich selbst als die letzte, entscheidende Welle in einem Ablauf prophetischer Bewegungen auf, von denen schon die vorausgegangenen auf ihn, den Islam, hinzielen. Der erste Muslim ist danach nicht Muhammad, sondern Abraham (Ibrahim): er ist die erste Gestalt, die Islam als den unbedingten Gehorsam gegenüber dem unbedingten Gotte vorlebte. Auch Jesus tut es: „Herr, wie du willst, nicht wie ich will.“ In den Augen des Islams ist Jesus zwar nicht „Gottes Sohn“, aber eine von ihm aufs höchste verehrte Gestalt: ein Prophet und vorbildlicher Muslim. Daraus ergibt sich, daß der Islam im Christentum, dem morgenländischen nämlich, das er kennt und das dem Islam nähersteht als die abendländischen Kirchen, nichts anderes sieht, als unvollkommenen Islam. Das Überlegenheitsgefühl, das dortige Christen ihm gegenüber befällt, nimmt er lächelnd als eine jener Verirrungen hin, mit denen Minderheiten auch anderswo in der Welt das Bewußtsein ihrer eigenen Schwächen ausgleichen.“
(Prof. Dr. phil. Ludwig Ferdinand Clauß, Die Weltstunde des Islams, © 1963, Seite 52-53)