„Die Vergötterung des Eigenen, wie sie in jüngstvergangener Zeit sogar zur Staatsdoktrin erhoben worden ist, hat eine Vorgeschichte, die bis zum Beginn der Neuzeit im Entdeckungsalter zurückreicht. Als der Mensch des Abendlandes (wohlgemerkt: nur dieser und nicht der Mensch überhaupt) aufzuhören begann, sich mikrokosmisch zu fühlen und nun aus der Mitte dessen, was ihm als „die Welt“ bewußt war, ausgreifend abtrat, fing Gott, um mit Nietzsche zu reden, zu „sterben“ an; anders gesagt: die Gotteserfahrung trat in eine fiebernde Krise, die als Befreiung galt und doch nichts anderes war, als ein „Menschlichwerden“ durch die Entfremdung von Gott.
Ruckweise, taumelnd und endlich entschlossen schreitend fand sich der abendländische Mensch allmächtig und unbehaust: er, der häusergewohnte. Wohl ist ihm nicht dabei. Will man den Geist einer Zeit an ihrem Inbild erkennen, das heißt an dem Bilde, das jeder in sich trägt als das, was er sein möchte, dann hat diese Entwicklung bis heute zu etwas geführt, dem der Witz der Zeit schon den Krankenschein ausgestellt hat.“
(Prof. Dr. phil. Ludwig Ferdinand Clauß – Die Seele des andern – Wege zum verstehen im Abend- und Morgenlande, Seite 82-83)