Der Autor des folgenden Textes war kein Liberaler, Libertärer oder Anarchist, sondern ein erzkonservativer Deutscher (und Muslim), der während des Nationalsozialismus als beamteter Hochschulprofessor tätig war, dann jedoch durch seinen Ungehorsam und seine kritische Haltung beim Regime in Ungnade fiel. Seine aus Selbsterfahrung resultierende Meinung zu „Staat und Beamtentum“ ist also äußerst beachtenswert.
„Andere verfallen dem Staat und fühlen sich wohl dabei. Sie wissen wohl, daß der Staat die Wissenschaft nicht sokratisch ansieht (er war es ja, der Sokrates tötete): dem Staat ist die Wissenschaft ein Verwaltungsbetrieb, zu dem auch das Lehren, ja dieses vor allem gehört. Die Wissensbestände werden ausgegeben wie bei einer Wehrmacht die Kleider auf der Kammer. Die künftigen Staatsdiener kleiden sich damit. Der Staat aber hat ein selbstverständliches Recht, zu wissen, was da geschieht: er sieht sich als Eigentümer des Wissens an, das auf seine Kosten weitergereicht wird. Es gibt erwünschtes, minder erwünschtes und unerwünschtes Wissen; das erwünschte ist wissenschaftlich und wird von ordentlichen Beamten gelehrt. Vom Staat aus gesehen, ist das Ganze eine Art Kauf, bei dem es ihm obliegt, ein geschickter Händler zu sein: er vergibt etwas, doch er will auch etwas dafür, selbstverständlich. Er vergibt Monopole und gesicherte Lebensstellung und erhält dafür die Gewähr, daß der Bestand des gesicherten, anerkannten Wissens nicht durch kritische Seitensprünge oder gar durch eine kritische Umwälzung im Sinne des Sokrates jemals in Frage gestellt wird. Käme Sokrates selbst noch einmal, so würde der Staat mit ihm heute weit kürzeren Prozeß machen – es sei denn, er wäre Beamter auf Lebenszeit. Das aber ist die Aufgabe der staatlich bestallten Wächter; aufzupassen, daß da nicht einer hereinkommt, der verdächtig ist, doch sokratisch zu sein. […]
Das Wort „Staat“ bedeutet praktisch das Untersichsein der Beamtenschaft, deren Glieder bei aller Verschiedenheit einander verschworen sind als eine Auslese, und zwar die Auslese derer, die zu jener Sicherung auf Lebensdauer geeignet scheinen. Die Eignung liegt in der ihnen eigenen Weise, ihre Welt zu ordnen und zu „haben“: im Bekenntnis also zu einer eigentümlichen Werteordnung. Das Wichtigste ist, daß an diese beamtliche Werteordnung nie gerührt wird. Dazu gehört, daß niemals einer in diese Auslese hineinkommt, der nicht seinem Wesen nach ein Gerüstbewohner wäre. Der Beamte kann alles ertragen, nur eines nicht: den freien Mann.
Was ist das: der freie Mann? Das Wort hat nichts mit dem Geschlechte zu tun und kann auch von der Frau gelten. Kurz gesagt: es ist der Mensch mit dem von Goethe so benannten selbständigen Gewissen, der „Sonne deines Sittentages“. Das selbständige Gewissen ist der äußerste Gegensatz zum angepaßten Gewissen des Staatsdieners in einem gemachten Staate. Manchem von uns, der dazu erzogen ist, vertrauensvoll auf die „Obrigkeit“ zu blicken, fällt es noch heute recht schwer, die Dinge so in ihrer nackten Ausschließlichkeit zu sehen. […] auch der Staat von damals [zur Zeit des Nationalsozialismus Anm. d. Verf.] war eben doch „der Staat“: von dem, der heute besteht, unterscheidet er sich durch seine Ideologie, nicht durch seine Staatlichkeit, das heißt: nicht durch seine Beamten. Ideologien wechseln, die Beamtenschaft bleibt. Wer damals nein gesagt hat, der hat sich bloßgestellt als einer, der es wagt, etwas zu verneinen, das Staat heißt. Und das ist ganz das Ganz-Andre: der freie Mann. Das Ding schmeckt immer ein wenig nach Sokrates.
Zum Beamten gehört es, daß er den Staat bejaht, unbedingt und ohne Ansehung der politischen Ideologie, von der dieser Staat jeweils getragen wird. Systeme wechseln zuweilen über Nacht, und das Neue kann ideologisch das Gegenteil sein von dem, an dessen Stelle es tritt. Der Beamte muß auch das neue System bejahen, denn es ist ja nunmehr „der Staat“, und ein Gleiches gilt auch von ihm: auch er ist Staat, er ist ein Teilchen des Staates, und ohne ihn ist er nichts. Er gehört mit ihm auf jeden Fall zusammen. Denkt man den Sachverhalt ohne Scheu zu Ende (Beamte tun das nicht, dazu sind sie nicht bestellt), so kommt man notwendig zu dieser Begriffsbestimmung: Beamte sind Lebewesen, die jedes System überhaupt grundsätzlich bejahen. Sonst müßten sie jedesmal gehen, wenn ein neues System kommt, und damit ihr Wesen verlieren, das staatsbedingt ist. Außerhalb des Staates vermögen sie nichts zu sein; sie vermögen nicht zu leben ohne Sicherung des Unterhalts auf Lebensdauer. Zuweilen wird auch ein solches Gehen gespielt; doch Gehen bedeutet in einem solchen Spiele – es ist ein Spiel zwischen Partnern, die das gemeinsame Textbuch kennen – niemals etwas Unwiderrufliches oder überhaupt etwas Schlimmes. Entweder kommt man bald wieder oder – äußersten Falles – wird man auf Kosten nicht etwa des Staates, denn das sind die Beamten, sondern der wertschaffenden, steueraufbringenden Stände dazu verurteilt, ein wenig früher als sonst seine Steckenpferde zu pflegen. Wie sollte es anders sein? Der Text für dieses Spiel, dem der Schaffende zuschaut, ist eben nicht als ein Trauerspiel geschrieben. Tragödien gehören auf die Bühne, und auch diese gehorcht dem Staat, der sie unterstützt oder nicht unterstützt mit dem Gelde, das er von den Schaffenden, nicht von Beamten, einhebt.
Muß das so sein? Es scheint so. Die Ideologie, die einen Staat belebt, bestimmen die Politiker. Auch diese gehören zum Spiele, sehr sogar. Schon als Abgeordnete. Politiker richten das System ein, dessen Nutznießer sie sein wollen. Warum überläßt man ihnen das? – Nun, wer ist „man“? Wer durch seine Art dazu verurteilt ist, Werte zu schaffen, der geht nicht in die Politik, solang er noch irgend ehrlich zu tun vermag, wozu ihn Gott gemacht hat.“
(Prof. Dr. phil. Ludwig Ferdinand Clauß – Die Seele des andern – Wege zum verstehen im Abend- und Morgenlande, 1958, Seite 148-162)