Bevor hier nun der 3. Teil der Abschrift folgt, möchte ich den Leser um ein wenig Geduld bitten. Ich hätte den Auszug durchaus kürzer ausfallen lassen können, denn H. H. Frank holt wirklich weit aus und verliert sich z.T. in kleinlichen Abschweifungen. Jedoch möchte ich mir nicht anmaßen zu wissen, welche Teile seiner Erwägungen denn nun für den Rotstift taugen und welche nicht. Und so nehme ich ausnahmslos und zusammenhängend den ganzen Teil mit und möchte an dieser Stelle schon darauf hinweisen, dass der anfänglichen negativen Wahrnehmung durch H. H. Frank mit der Zeit eine durchaus positive Sichtweise auf den Sufismus folgen wird.
„Aus der großen Menge schriftlicher Zeugnisse und verschiedener Systeme nehmen wir mit Bedacht einiges heraus und übernehmen die Gewähr der Richtigkeit auf die Gefahr einer kontrollierenden Nachprüfung der einheimischen Quellen, die ja keinem verwehrt ist.
Der Derwisch stellt für sich den Grundsatz auf; derwisch asiát némikunéd „Der Derwisch tut keinem Leid an, stiftet keinen Schaden“. Und das muß wahr sein, kein Derwisch konspiriert. Das Volk läßt sie gewähren. Obrigkeit, Geistlichkeit, bürgerliche Gesellschaft hält sie für völlig harmlos.
Der Derwisch will alsdann seine Anhänger, sich selber erziehen. Und seinen Lehrplan teilt er in drei Abschnitte. Der erste ist die ibadet, die Beobachtung der religiösen Satzung. Der Derwisch hält sie nicht für uneben, noch für einen Gegenstand der Polemik; er will sich von der Religion erziehen lassen. Das Gesetz ist ein Zuchtmeister auf die Erlösung. Vielfacher, direkter Verkehr mit Derwischen hat mich von der Meinung abgebracht, daß hierin eine kleine Heuchelei liege, eine scheinbare Reverenz, vor dem Islam, um sich ein Existenzrecht zu erkaufen. Denn der Islam liegt fest und dicht auf dem ganzen Orient und der Orientale nimmt es bitter ernst mit der Religion, sie ist ihm allgegenwärtig.
Nein, der Derwisch läßt sich von der Religion erziehen, aber er überwindet die Satzung. Ist das geistige Bedürfnis so weit gesteigert, daß Äußerlichkeiten in keiner Weise mehr dessen adäquater Ausdruck sein können, dann ist der Derwisch ein ssalik (wandernder); er befindet sich auf dem Weg (tarikat); ist auf den Gang gebracht. Jetzt steuert er direkt auf sein Ziel los: nach der befestigten Erkenntnis (ma’rifat).
In diesem Zustand erhält er die Fähigkeit, eine Einheit, Ruhe, Einmütigkeit in seinem Innern dauernd herzustellen. Er nennt die Erfüllung seines Wunsches und Strebens tauhid „das eins-machen“ oder ittihad d.h. die Tätigkeit, vermöge deren man sich mit sich selbst eins gemacht hat.
Nun wird ja immer gesagt und erklärt, das tauhid und ittihad sei das Verschmelzen mit Gott. Ein frommer und in der Geschichte wohl bekannter, von den Dichtern oft erwähnter Sufi, mit Namen Manzur el Halladsch d.h. Manzur der Wollkrempler, glaubte zu diesem Ziele gekommen zu sein und durchwanderte die Straßen mit dem Rufe ana alhak „ich bin Gott“. Allein, das war den Moslims zu viel. Die Staatsgewalt schritt ein und der arme Manzur wurde in schauderhafter Weise langsam zu Tode befördert, ohne einen Augenblick an seinem Glauben irre zu werden.
Das erinnert an die Befragung Christi durch den Hohenpriester. Er zerriß sein Gewand ob der Antwort und sprach: „er hat Gott gelästert“. Er wollte ihn mißverstehen.
Nun hat die Derwischlehre, wie ihre Literatur und die Vielfachheit der Überlieferung außer Zweifel stellt, weniger den Charakter einer einzelnen, auf einen Offenbarungsakt zurückgehenden historischen Lehre, als den eines wiederholten Deutungsversuches typischer spontaner Erscheinungen aus dem Seelenleben.
Real sind sie diese Erscheinungen! Aber wie sollen sich zwei oder drei oder viele verständigen über das, was sie meinen? Es ist schwieriger, als wenn sich zwei über eine Farb- oder Tonempfindung verständigen wollen. Als Beispiel kann man sich ferner die allmähliche Entstehung der Kunstausdrücke unserer traditionellen Psychologie wählen, als: Denken, wollen, empfinden, Gefühl, Seele, Geist, Gemüt, Verstand, Vernunft, Leidenschaft, Gewissen usw.. Das sind ja alles nur Wörter, Figuren: In den Sand gezeichnet, den die Stürme des Leben hin und hertragen, Figuren, Spiegelungen auf der Wasserfläche unseres dahin rinnenden Vorstellungsverlaufes.
Weil die Worte einmal da sind, glauben wir auch an die Realitäten darunter, glauben unter jedem dieser Wörter etwas bestimmtes zu haben, zu wissen, zu begreifen!
Nur durch Gewohnheit klammern wir uns an Ausdrücke, nehmen Hypostasien und Personifikationen durch Abstrakta, Substantive, für bare Münze, während das Seelen- und Gemütsleben in purpurner Finsternis und unendlicher Deutungsfähigkeit bergtief unter diesen Vorgängen liegt.
Nein, als ein solch stammelndes Wort haben wir uns unter dem tauhid und ittihad einen Gemütszustand zu denken, den zu beschreiben vielleicht gar nicht möglich, zu verstehen vielleicht möglich für diejenigen ist, die ihn aus Erfahrung kennen und vor allem zu beobachten gelernt haben. Deren mag es viele geben, ja! Höchst wahrscheinlich liegt hier eine typische Erscheinung vor, längst bemerkt, schon in einer längst vergangenen Zeit, und herstammend von den Ufern des Stromes der Lotosblumen.“