Der heutige Konservatismus, wie man ihn in Europa und Nordamerika antrifft, ist keineswegs mehr als der rechte Flügel des Liberalismus. Dies wird schon dadurch deutlich, dass auch jene Konservativen mittlerweile in ihrem Denken und ihrer Artikulation vollends aufgegangen sind in einem von den Losungen der »Freiheit« und der »Gleichheit« geleiteten Zeitgeist. Aber gerade diese beiden der Aufklärung entsprungenen Losungen waren einst Ziel konservativer Kritik. Der Forderung nach Freiheit begegneten die frühen Konservativen mit der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen, der immer dem Wille Gottes oder zumindest den Mächten der Natur unterworfen ist. Die Forderung nach Gleichheit wiesen sie zurück mit dem Verweis auf die Unvermeidbarkeit der Hierarchie als Folge der unterschiedlich starken Begabungen und moralischen Kompetenzen der Menschen.
Die heutigen Konservativen stellen sich wohl gegen Tendenzen wie den Sozialstaat, staatliches Eingreifen in die Wirtschaft, massenhafte Einwanderung und betrachten mit Sorge den Zerfall der Familie, die Zahl der jährlichen Abtreibungen und den allgemeinen kulturellen und sittlichen Verfall, doch stehen auch sie auf dem Grund jenes aufklärerischen Bekenntnisses, wonach dem menschlichen Willen die höchste Aufmerksamkeit zustünde, alles in der Welt prinzipiell der Durchdringung durch den menschlichen Intellekt unterworfen sei und dem Politischen ein Primat gegenüber der Religion zu gewähren sei. Dabei ist es doch gerade diese Selbstinthronisierung des Menschen und seine gleichzeitige Herauslösung aus dem eigenen metaphysischen Urzusammenhang, die die Grundlage bildet für das gegenwärtige Auseinanderbersten tradierter Strukturen und Verhältnisse, die sich den Konservativen von einst als gottgewollt oder zumindest als natürlich darstellten.
Das Recht, sich konservativ zu nennen, steht und fällt mit dieser klaren Einsicht.