„Als die großen religiösen und philosophischen Konzeptionen lebendig waren, priesen die denkenden Menschen Demut und brüderliche Liebe, Gerechtigkeit und Humanität nicht, weil es realistisch war, solche Prinzipien aufrechtzuerhalten und abwegig und gefährlich, von ihnen abzuweichen, oder weil diese Maximen mit ihrem vermeintlich freien Geschmack besser übereinstimmten. Sie hielten an solchen Ideen fest, weil sie in ihnen Elemente der Wahrheit sahen, weil sie sie mit der Idee des Logos zusammenbrachten, ob in Form Gottes oder eines transzendenten Geistes oder selbst der Natur als eines ewigen Prinzips. Nicht nur wurden die höchsten Ziele so verstanden, daß ihnen ein objektiver Sinn, eine immanente Bedeutung zukam, sondern selbst die bescheidensten Beschäftigungen und Neigungen hingen ab von einem Glauben an die allgemeine Erwünschtheit und den innewohnenden Wert ihrer Gegenstände.
Die mythologischen, objektiven Ursprünge, wie sie von der subjektiven Vernunft zerstört werden, betreffen nicht nur die großen Allgemeinbegriffe, sondern liegen auch offenkundig persönlichen, durchaus psychologischen Verhaltensweisen und Handlungen zugrunde. Sie alle – bis hinunter zu den Gefühlen – verflüchtigen sich, indem sie dieses objektiven Inhalts, dieser Beziehungen auf die als objektiv angenommene Wahrheit beraubt werden. Wie die Spiele der Kinder und die Grillen der Erwachsenen in der Mythologie ihren Ursprung haben, so war jede Freude einmal mit einem Glauben an eine höchste Wahrheit verbunden.“
Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentalen Vernunft, Fischer Taschenbuchverlag, Seite 42