Nehmt euch nicht selbst als Maßstab

von Yahya ibn Rainer

Zu Beginn ist jeder still und reuig, weil er unwissend ist. Dann beginnt er den Islam zu praktizieren. Immer, wenn er nun etwas Neues lernt, fühlt er sich besser und sieht sich in der Lage, den anderen, die dieses Wissen noch nicht erlangten, ihre Unwissenheit zum Vorwurf zu machen. Dies geht immer und immer weiter so, bis man Werke von Gelehrten gelesen und Hadithe gelernt hat.

Ich denke, hier steckt ein gewaltiges Problem im Verständnis eines gottgefälligen Muslimlebens. Niemand hat von den Awwam (normalen Muslimen) zu erwarten, dass sie Hadithbücher auswendig lernen oder anderweitig Wissende in den diversen Wissenschaften der Religion werden.

Diese Auffassung einiger Brüder ist nicht selten der Ausdruck einer maßlosen Selbstgerechtigkeit, die den Muslim dazu verleitet, immer wieder sich selbst zum Maßstab zu machen.

So lange man es selbst nicht erlernt hat, ist man natürlich still, aber beherrscht man es (oder glaubt es zumindest), macht man allen anderen ihre Unwissenheit zum Vorwurf. Dieses Denken ist ein Hauptgrund für den Salafi-Burnout vieler junger Muslime, die den hohen Ansprüchen einiger Selbstdarsteller nicht mehr gerecht werden können.

Die Religion wurde kompliziert und schwer gemacht, weil sich die Awwam anmaßen, in wissenschaftlichen Kategorien denken und die religiöse Praxis der Asketen verbindlich machen zu müssen.

Aber die Religion Allahs ist leicht und wir machen die Güte eines Muslims nicht daran fest, wie viel er auswendig kann oder über den Pflichtteil hinaus öffentlich praktiziert. Wer durch solche Aussagen, wie «Lern du erstmal dies-und-das, bevor du dies-und-das sagst/tust!» besticht, sollte sich ernsthaft Gedanken über seinen Ikhlas – seine Aufrichtigkeit – machen, denn man macht nicht nur sich und seinen eigenen Zustand zum allgemeinen Maßstab, sondern man offenbart ihn auch in einer Weise, die man auch als Augendienerei (riya) oder kleiner Shirk (kleiner Götzendienst) bezeichnen könnte.

Mit solchen Personen, egal wie groß ihr religiöses Wissen ist, wird Allah der Hocherhabene das Höllenfeuer anfachen, denn sie lernten ihr Wissen nicht nur um es zu praktizieren und anderen beizubringen, sondern auch um es zur Schau zu stellen.

Diese Dunya verlangt von uns Arbeitsteilung, auch in religiösen Angelegenheiten. Einige wenige erlangen das spezifische religiöse Wissen und sind uns durch ihre Askese ein Vorbild, die anderen, die Awwam (einfachen Leute) sorgen für die Bestellung der Äcker, das Handwerk, reichhaltige Märkte, technischen Fortschritt, medizinische Versorgung usw. usf.

Die Muslime sollen die Schahada verinnerlichen, die 5 Gebete verrichten, die Almosenabgabe zahlen, im Ramadan fasten und die Hajj vollziehen. Es steht niemandem zu, ihnen einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie ihre Zeit dafür aufbringen ihre Rizq (Versorgung) zu verdienen und (im Rahmen der Scharia) allzu große religiöse Belastung zu meiden.

Das Nachlassen in der Religion gehört genauso dazu, wie das Sich-verbessern. Wer sich übernimmt und sich zu schnell zu viel aufbürdet, muss es sich eingestehen und die Konsequenzen daraus ziehen. Er muss nachlassen, um sich und seinen Iman nicht zu gefährden, denn eine Überlastung führt zu einem Burnout, und dieser kann sich im schlimmsten Fall auch als endgültiger Vernichter des Imans herausstellen.

Jedoch wird ein solches Nachlassen leider nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern von den oben bereits beschriebenen Selbstdarstellern auch entsprechend kommentiert. Das Nachlassen wird vom direkten Umfeld als Vorwurf formuliert, anstatt es verständnisvoll zu begleiten.

Besonders in isolierten Gruppen kann sich ein solch „hochreligiöses“ Umfeld als zerstörerisch erweisen, weil Gruppenzwang und -dynamik einen Druck aufbauen, der in letzter Konsequenz nur noch durch einen kompletten „Ausstieg“ abgelassen werden kann.

So entstehen sogenannte „Aussteiger“, die sich vollends abspalten und häufig sogar eine Art Feindschaft zu denen entwickeln, die die Religion strenger auslegen und praktizieren können. Es wird ein Band zerrissen, das hätte erhalten bleiben müssen. Die einen werden jetzt als „die Radikalen“ bezeichnet und die anderen als „die Nachlassenden“, obwohl beide ihre Berechtigung haben.

Besonders die Konvertiten und Revertiten müssen sich dessen bewusst sein. So hoch deine Ambitionen auch sein mögen, du gehörst zu den Awwam, zu den ganz normalen Muslimen, zu deren Prüfung es in dieser Dunya gehört, finanziell unabhängig zu werden, um für sich selbst und den Unterhalt der Familie sorgen zu können. Nicht jeder muss ein Gelehrter werden, man kann auch durch ganz normale wirtschaftliche Tätigkeiten ein äußerst wichtiger und tragender Bestandteil der Ummah  sein.

Haltet Maß und zeigt Verständnis. Verachtet weder die Mit-sich-Strengen (Radikalen) noch die Mit-sich-Milden und macht dem jeweils Anderen nicht eure Praxis verbindlich.

Wa Allahu 3alem

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

Ein Gedanke zu „Nehmt euch nicht selbst als Maßstab

  1. „Das Nachlassen in der Religion gehört genauso dazu, wie das Sich-verbessern. Wer sich übernimmt und sich zu schnell zu viel aufbürdet, muss es sich eingestehen und die Konsequenzen daraus ziehen. Er muss nachlassen, um sich und seinen Iman nicht zu gefährden, denn eine Überlastung führt zu einem Burnout, und dieser kann sich im schlimmsten Fall auch als endgültiger Vernichter des Imans herausstellen.„

    Davon kann ich ein Lied, danke für den Artikel, Allah hi jazik…

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