Rezeption: Die Balkanländer (1886) von Prof. Émile Louis Victor de Laveleye (1. Teil)

Für gewöhnlich ist eine Rezension die kritische Besprechung eines Buches, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt als neue Erscheinung in den Buchhandlungen ausliegt oder (zeitgemäß ausgedrückt) neu bei Online-Buchshops im Angebot ist.

Im Falle dieser Buchbesprechungen ist dies so nicht gegeben. Es handelt sich nämlich um ein Werk in 2 Bänden und der Autor publizierte diese bereits im Jahre 1886. Da ich Werk und Autor nicht kritisch beurteilen, sondern lediglich den Inhalt rezipieren möchte, ist dies also keine Rezension sondern eine sogenannte Rezeption. Musste ich auch erst lernen.

Beim Gegenstand dieser Rezeption handelt es sich um das Werk »La péninsule des Balkans. Vienne, Croatie, Bosnie, Serbie, Bulgarie, Roumélie, Turquie, Roumanie«, das 1886 zu Den Haag und Brüssel erschien und 1888 von E. Jabobi ins Deutsche übertragen beim Verlag von Carl Reissner zu Leipzig erschien. Der Titel wurde in der Übersetzung erfreulicherweise auf ein erträgliches Minimum gekürzt und lautete nun knapp aber prägnant „Die Balkanländer“.

Der Titel an und für sich wäre für mich kein Ansporn gewesen mir die Lektüre dieser 132 Jahre alten Reiseliteratur aufzuerlegen. Buchauszüge jedoch, die ich in Texten des deutsch-französischen Islamkonvertiten Muhammad Adil Schmitz du Moulin aus dem Jahre 1903 fand, weckten mein Interesse. Also recherchierte ich ein wenig und fand recht schnell auch Scans der beiden Bände bei archive.org.

Mich reizte in erster Linie der Wandel des Autors, den er während seiner Reise durch die ehemals osmanischen Gebiete des Balkans durchzumachen schien. Er reiste klar erkennbar mit antimuslimischen/antitürkischen Vorurteilen in diesen Teil Europas, gab die Schuld für den Entwicklungsrückstand der osteuropäischen Länder den »geist- und herztödtenden Regimenten der Moslims« und bezeichnete die Herrschaft der Osmanen auf dem Balkan als «barbarische Zustände«.

Andererseits zeigte sich aber auch, dass der Professor ein wahrer Wissenschaftler war, mit einem Sinn für Objektivität und einer ideologisch ungetrübten Brille. Selbst ein religiöser Katholik, verfasste er Beiträge und Artikel, die den Protestantismus für seine fortschrittliche Orientierung lobten und die Katholische Kirche als maßgeblichen Grund für die katholische Rückständigkeit verantwortlich machten. Zu seiner Schaffenszeit noch waren solche überkonfessionellen Äußerungen in vielerlei Hinsicht nicht gern gesehen.

Der Wandel also, den de Laveleye vollzog, war in meinen Augen dieser objektiven und ungetrübten Beobachtungsweise geschuldet und somit authentisch und nicht das Produkt eines schwärmenden Philikers oder Konvertiten. Und genau dieses objektive Urteil eines Außenstehenden interessierte mich sehr.

Meine Rezeption dieses Werkes dauert jetzt schon seit einigen Monaten an. Im Januar verfasste ich bereits einen kleinen Blogbeitrag zum Thema (»Der Meinungswandel des Prof. Dr. de Laveleye (gest. 1892) über den Islam und die Muslime«), in dem ich ankündigte einen umfassenderen Beitrag vorzubereiten.

Zu aller erst muss man wohl auf die Persönlichkeit des Autoren zu sprechen kommen, bevor man sich dem Inhalt seines Reiseberichtes widmet. Émile Louis Victor de Laveleye (und hier beziehe ich mich auf den Eintrag bei Wikipedia) …

… «wurde 1822 in Brügge geboren und absolvierte das Collège Stanislas, eine private Schule der katholischen Oratorium-Gemeinschaft in Paris, sowie später die Katholische Universität Löwen und die Universität Gent. Im Jahr 1864 wurde er Professor für Nationalökonomie an der Universität Lüttich.

Drei Jahre später vertrat er Belgien in der Jury der Weltausstellung von 1867. Im September 1873 war er an der Gründung des Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht) beteiligt, einer bis in die Gegenwart bestehenden Einrichtung, die 1904 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Er starb 1892 in Doyon bei Lüttich.

Die Aktivitäten von Émile de Laveleye umfassten weite Bereiche der politischen Wissenschaften und der Ökonomie sowie Probleme der Geldpolitik, des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Fragen der Bildung, Religion, Moral und Literatur, und erstellte beispielsweise 1861 eine französische Übersetzung des Nibelungenliedes. Er fühlte sich insbesondere der Gesellschaft in England zugeneigt, da diese in vielen Bereichen seinen sozialen, politischen und religiösen Vorstellungen entsprach.»

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89mile_Louis_Victor_de_Laveleye)

Als Einleitung schmückt das Gesamtwerk im ersten Band eine „Biographische Skizze von Ph. Linet“, die weiteren Aufschluss über Person und Wirken de Laveleyes gibt. So lesen wir, dass er bereits ab einem Alter von 19 Jahren begann literarische und geschichtliche Schriften herauszugeben. 20 Jahre später fertigte er die ersten gemeinverständlichen französischen Übersetzungen der »Nibelungen« und der »Edda« an. Hierzu bereiste er Deutschland, wo er an den Urtext ging und sich Rat von hiesigen Experten holte, wie den berühmten Gebrüdern Grimm.

Dann widmete sich de Laveleye der soziologischen Fragen seiner Zeit. Er beschäftigte sich mit den »Ursachen des Fortschrittes angelsächsischer Völker« und der »Prüfung des Kommunismus«. Ab 1859 schrieb er insgesamt 76 Artikel für das »Revue des Deux Mondes«, einem der ältesten noch heute existierenden Magazine Europas, in dem auch Persönlichkeiten wie Charles Baudelaire, Leo Tolstoi, Victor Hugo, Ernest Renan, Alexis de Tocqueville und Heinrich Heine publizierten. Er schrieb vor allem über Volkswirtschaftslehre, Ackerbau, Finanzwesen, Geschichte der Gegenwart, Politik, Schulwesen, Religion uvm., »es giebt wohl kaum einen Stoff von politischer oder socialer Natur, den er nicht mit Meisterhänden angefasst und behandelt hat.«, schreibt Ph. Linet seiner Einleitung zum hiesigen Werk.

1864, also im Alter von 42 Jahren, wurde de Laveleye von der belgischen Regierung zum Inhaber des Lehrstuhles für Nationalökonomie an der Universität Lüttich berufen. Dort wirkte er neben seiner Lehrtätigkeit auch als Vorkämpfer des Völkerrechts, als kirchenkritischer Verteidiger des religiösen Glaubens und als Unterstützer der allgemeinen Schulbildung.

Ph. Linet schließt seine Biographische Skizze dann mit folgenden Worten ab:

»Professor von Laveleye ist Mitglied der könglich belgischen Akademie, der »Institut de France«, der Akademie von Rom, Madrid, Lissabon, Serbien usw., Ehrendoktor der Universitäten zu Petersburg, Edinburgh und Würzburg, Offizier des Leopoldordens und der Ehrenlegion und Gross-Offizier und Kommandeur von acht fremden Orden. Doch seine ganze umfassende Wirksamkeit, seine wunderbare Schaffens- und Arbeitskraft lässt sich in einer einfachen Skizze nur unvollkommen zum Ausdrucke bringen; allein die Gelegenheit ist günstig, um mit einer Huldigung hervorzutreten, welche dem geistvollen Gelehrten, dem tapferen Freiheitskämpfer und dem edlen Menschenfreunde in gleichem Maasse gilt.«

In der Einleitung des Werkes findet der Grund für die Balkanreise des Professors nur kurze Erwähnung. Ph. Linet schreibt:

»Wie nach der Schlacht von Sadowa, so erfuhr auch nach dem letzten russisch -türkischen Kriege die allgemeine Lage Europas eine durchgreifende Aenderung. Der brennende Punkt liegt aber im Osten, weil hier Russland und das durch Deutschland gestützte Oesterreich sich entgegenstehen und damit das europäische Gleichgewicht in eine ganz andere Richtung drängen.

Der gelehrte Schriftsteller [Prof. Émile de Laveleye] hielt sich nun für verpflichtet, an Ort und Stelle die Lage der Donau- und Balkanländer zu erforschen. Die Ergebnisse seiner Reise legte er in der »Revue des Deux Mondes« nieder und gab ihnen dann mit den ins Englische und Deutsche übersetzten »Balkanländern« die Buchform.«

De Laveleye selbst schreibt ab Seite 1 nur diesen kurzen Abschnitt zu seiner Motivation:

»Mein Weg führt mich von neuem zu den Slawenvölkern der Donau- und Balkanländer. Ich möchte sehen, wie die Zadrugas — die Haus- oder Familiengemeinden — , welche mir auf meiner Reise im Jahre 1867 eine so grosse Begeisterung einflössten, inzwischen sich verändert haben.

Gegen meine veraltete Auffassung jener ehrwürdigen Gemeinschaften sprachen Leroy-Beaulieu und Moritz Block mit strengem Tadel sich aus, während Stuart Mill dieselbe getheilt und Henry Maine sie begriffen hat.

Unter Bischof Strossmayrs Führung werde ich zunächst die Zadrugas Slawoniens in der Gegend von Djakovo in Augenschein nehmen , dann will ich meine Beobachtungen in Bosnien, Serbien und Bulgarien fortsetzen und mich dabei über die politische und wirthschaftliche Lage dieser Länder unterrichten, deren ich schon in meinem Buche »Preussen und Oesterreich seit Sadowa« gedachte.

Die günstige Gelegenheit, dergleichen Untersuchungen anzustellen, muss ohne Zögern ergriffen werden, weil unter dem Einflüsse von Eisenbahnen, neuen Verfassungen und engeren Beziehungen zum Westen Europas eine schnelle Umwandlung sich vollzieht. Die Bewohner jener Länder werden ihre eigenartigen, hundertjährigen Sitten und Gebräuche, ihre malerischen Trachten bald gegen das vertauschen, was man die moderne Zivilisation zu nennen pflegt, und dann ihre ganze Denk- und Lebensweise nach der Art von Paris oder London regeln. Seit dem Jahre 1867 haben, wie ich höre, gewaltige Umwandlungen sich vollzogen.«

Schauen wir also, was der Professor auf seiner Reise für Untersuchungen anstellen konnte.

[Der 2. Teil folgt]

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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