Wo ist der orthodoxe Muslim politisch zu verorten? Egalitär vs. Elitär

von Yahya ibn Rainer

Ich möchte diesen Artikel mit einer wahren Begebenheit beginnen: Es ist knapp 2 Jahre her, da saß der Vorstand eines Moschee-Vereins im Büro mit einigen Gästen beisammen. Man unterhielt sich gemeinsam und unter ihnen befanden sich auch zwei deutschstämmige Muslime. Irgendwann kam man auf die Jahiliyya, die vorislamische Zeit, zu sprechen. Bei diesem Gespräch stellte sich heraus, dass der eine Deutsche, vor seiner Konversion, ein hoher Funktionär der FAP war, einer ultranationalistischen Partei, die von 1979 bis 1995 existierte, dann jedoch verboten wurde. Der andere deutschstämmige Muslim war in seiner vorislamischen Zeit Mitglied in der DKP, einer kommunistischen Partei.

Noch zu ihren politischen Zeiten, vor ihrer Konversion, wären sich beide Personen an die Gurgel gesprungen und hätten sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, doch mit dem Islam als gemeinsame Religion, saß man jetzt gesellig beisammen, brüderlich und verbunden. Die ursprüngliche und allweise Botschaft und Lehre der Religion, die der Schöpfer, Lenker und Erhalter des gesamten Universums für uns vollendet hat, führte zwei Herzen zusammen, die vorher nichts als Abscheu füreinander empfanden und entfernte falsche und ungerechte Lehren aus ihren Köpfen. Der Erstere ließ ab von seinem kranken Nationalismus und schrecklichen Rassenwahn und ist heute mit einer Schwarzafrikanerin verheiratet, und der Andere schüttelte den oktroyierten Antitheismus ab, gab den Neid auf wohlhabende Menschen auf und erkannte die Verschiedenheit der Menschen an. Auf den ersten Blick bekam man also den Eindruck, dass man sich von rechtsextrem und linksextrem gemeinsam in Richtung Mitte bewegte, was auch ein Merkmal der Ahlus-Sunnah wal-Jamaah, also der islamisch-sunnitischen Glaubensrichtung, ist, nämlich eine Gemeinschaft der Mitte zu sein.

Aber das politische System der europäischen Republiken hat einen anderen Blickwinkel auf diese Angelegenheit. Hierzu ist es wichtig, den Ursprung der politischen Begriffe „links“ und „rechts“ zu erläutern. Am besten und schnellsten geht das natürlich über Wikipedia. Der Eintrag Politisches Spektrum geht relativ detailgetreu auf das Thema ein und veranschaulicht, woher die politischen Richtungsbegriffe stammen und was sie bedeuten. Hier einige Auszüge:

„Politische Parteien und Ideen werden häufig vereinfachend anhand der eindimensionalen Systematik des politischen Spektrums klassifiziert. Dabei werden sie auf einer Achse platziert, deren Enden mit den einprägsamen und in ihrer wörtlichen Bedeutung wertneutralen Attributen links und rechts bezeichnet werden, mit einer dazwischenliegenden Mitte oder dem Zentrum. Diese Sichtweise wird heute von den meisten politischen Parteien und auch von den meisten Medien angewandt, obwohl sie bei differenzierteren Betrachtungen – insbesondere bei politischen Randthemen – versagt und diese Unzulänglichkeit auch allgemein anerkannt wird.

Das Aufkommen der Links-Rechts-Unterscheidung im Sinne politischer Richtungsbegriffe wird auf den Ursprung der Französischen Nationalversammlung in der verfassunggebenden Nationalversammlung (Konstituante) von 1789 zurückgeführt [1]. Dadurch blieb die Sitzordnung nicht länger das Spiegelbild festgefügter gesellschaftlicher Hierarchien wie in der Versammlung der feudalen Generalstände, sondern brachte bald die Dynamik politischer-ideologischer Auseinandersetzungen zum Ausdruck. Es entstand eine Auffächerung der politischen Orientierungen in der Nationalversammlung in ein Meinungsspektrum zwischen zwei Extremen: Die linke Seite „le côté gauche“ kennzeichnete eine revolutionäre, republikanische Stoßrichtung, während „le côté droit“ mehr zurückhaltende, der Monarchie freundlich gesinnte Vorstellungen vertrat. Bald wurden die räumlichen Adjektive „links“ und „rechts“ substantiviert und man sprach nun einfach von „la droite“ und „la gauche“. Innerhalb dieser Lager bildeten sich wiederum sehr rasch Flügelgruppen: „l’extrémité gauche“ und „l’extrémité droite“.

(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_Spektrum)

Laut diesem Wikipedia-Artikel unterscheiden sich linke und rechte Ansichten vor allem in drei Hauptpunkten.

Egalitär vs. Elitär / Progressiv vs. Konservativ / Internationalistisch vs. Nationalistisch

Egalität ist ein anderes Wort für Gleichheit und ist ein maßgeblicher Bestandteil linker Politik. Anfangs begnügte man sich lediglich mit der Gleichstellung von wohlhabenden und verarmten Menschengruppen, ab Beginn der Industralisierung als Proletariat und Bourgeoisie bezeichnet. Einher ging damit auch der Versuch der Umverteilung. Wohlhabene Menschen sollten ärmer und verarmte Menschen sollten reicher werden. Das ging natürlich nur mit dem Mittel der (Zwangs-)Enteignung. Im linksextremen Spektrum war das Ziel die komplette Abschaffung von Reichtum, mit der damit verbundene Hoffnung, dass auch die Armut damit verschwinden würde. Diese Utopie ist gründlich gescheitert, denn ein solcher Zustand ist (wenn überhaupt) nur unter Entzug sämtlicher Freiheiten und vollkommener Überwachung möglich, ein Zustand den die Mehrheit der Menschen natürlich ablehnt.

Später jedoch wurde die Gleichstellung auch auf andere Merkmale ausgeweitet. Besondere Bevölkerungsgruppen, religiöse oder ethnische Minderheiten, Frauen, ältere Menschen, Behinderte und  Homosexuelle wurden integraler Bestandteil der Gleichstellungsbemühungen linker Politik. Besonders kontrovers werden heutzutage die Bemühungen des sogenannten Gender-Mainstreaming diskutiert. Erreicht werden soll Egalität vor allem mit Quoten, die in Politik und Wirtschaft die Gleichstellung von Frauen, Minderheiten, älteren und behinderten Menschen erzwingen sollen. Elitäre Merkmale werden somit verdrängt oder mindestens in den Hintergrund gestellt.

Elitär bezeichnet eine Bevorzugung von Menschen oder bestimmter Menschengruppen aufgrund einiger Merkmale die sie innehaben. Ein solches Merkmal kann eine besondere Qualifizierung oder Begabung ebenso sein, wie gesellschaftliches Ansehen, besondere Herkunft oder materieller bzw immaterieller Reichtum. Ebenso wird die Bevorzugung oder Bevorteilung des einen oder anderen Geschlechts als elitär bezeichnet.

Wo steht nun der Islam und somit der orthodoxe Muslim in diesem Spannungsverhältnis?

In diesem Fall ist die Sache klar. Der orthodoxe Muslim ist in dieser Hinsicht ganz klar rechts. Die Angelegenheiten im Islam, die der Mensch angehalten ist zu tun, sind definitiv vor allem elitär geregelt und nicht egalitär. Es wird klar zwischen Mann und Frau, Wissendem und Unwissendem, Jüngling und Altem, Armen und Reichen und ebenso in der Herkunft und Abstammung unterschieden. Zwar sind alle Menschen, bezüglich ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft gleichwertig vor ihrem Schöpfer, jedoch trifft auch Er eine elitäre Auswahl unter seinen Dienern, indem Er im Quran sagt:

Gewiß, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch.
(49:13)

Es gibt in keiner Angelegenheit der islamischen Handlungen eine Frauen-, Männer-, Behinderten- oder Senioren-Quote. Vielmehr wird für jedwede Handlung immer die Elite innerhalb der Gemeinschaft beauftragt. Im Folgenden einige Beispiele:

Sprich: ‚Sind etwa diejenigen, die wissen, denen gleich, die nicht wissen?‘ Doch nur die Einsichtigen lassen sich ermahnen.
(39:9)

Und der Blinde ist nicht dem Sehenden gleich (zusetzen), und diejenigen, die glauben und tun, was recht ist, (sind) nicht demjenigen (gleichzusetzen), der Böses tut. Wie wenig laßt ihr euch mahnen!
(40:58)

Wer betet der Gemeinschaft vor?

Es überliefert Abu Mas’ud Uqba ibn Amru al-Badri al-Ansari (r), dass der Gesandte Allahs (s) sagte: „Vorbeter soll derjenige sein, der mehr aus dem Qur’an (auswendig) rezitieren kann. Beherrschen alle Anwesenden die Rezitation (des Qur’ans) gleich gut, dann folgt derjenige, welcher in der Sunna am gelehrtesten ist; wenn sie hierin gleich sein sollten, dann ist es der, welcher zuerst ausgewandert ist; und sollten sie in dieser Hinsicht alle gleich sein, dann sollte der älteste von ihnen das Gebet leiten. Niemand sollte das Gebet im Hause einer anderen Person leiten, und niemand sollte ohne Erlaubnis des Hausherrn in seinem Hause auf dessen Sitz Platz nehmen.“

(Muslim)

Also nix mit Frauen-, Männer-, Behinderten- oder Senioren-Quote. Vielmehr ist es sogar so, dass es einer Frau verboten ist für Männer vorzubeten. Ein Mann jedoch darf für Frauen vorbeten. Also klar elitär.

Der Unterschied zwischen arm und reich!

Es erzählte Maimun ibn Abi Schabib (rA): „Einst kam ein Bettler zu (der Mutter der Gläubigen) Aischa (r) und sie gab ihm ein Stück Brot. Und als ein gut gekleideter Mann zu ihr kam, ließ sie ihn Platz nehmen und trug ihm Speisen auf. Als man sie deswegen befragte, sagte sie: „Der Gesandte Allahs (s) hat gesagt: ‚Behandelt die Leute ihrer Würde gemäß.’„

(Abu Dawud)

Wahrscheinlich ein Greuel für jeden überzeugten Linken, aber eine islamische Realität. Die „Würde“ des Menschen ist nicht bei allen als gleich zu betrachten. Reichtum, Wissen, Anstand und Alter sind u.a. Meßlatten für den Umgang mit ihnen.

Auch die islamische Rechtssprechung unterscheidet zwischen Mann und Frau. Das finanzielle Einkommen des Ehemannes muß für die Versorgung der Familie herhalten, im Gegensatz dazu ist das finanzielle Einkommen der Ehefrau allein ihr Besitz und darf vom Ehemann nicht angerührt werden. Die Mahr (die Brautgabe) ist immer vom Ehemann an die Ehefrau zu entrichten und nicht andersherum.

Das islamischen Erbrecht kennt ebenfalls keine Egalität, denn auch hier wird zwischen männlichen und weiblichen Wesen unterschieden.

Allah schreibt euch hinsichtlich eurer Kinder vor: Auf eines männlichen Geschlechts kommt (bei der Erbteilung) gleichviel wie auf zwei weiblichen Geschlechts. Sind es aber (nur) Frauen, mehr als zwei, sollen sie zwei Drittel der Hinterlassenschaft erhalten. Ist es nur eine, soll sie die Hälfte haben. Und jedes Elternteil soll den sechsten Teil der Hinterlassenschaft erhalten, wenn er (der Verstorbene) Kinder hat; hat er jedoch keine Kinder, und seine Eltern beerben ihn, steht seiner Mutter der dritte Teil zu. Und wenn er Brüder hat, soll seine Mutter den sechsten Teil, nach Bezahlung eines etwa gemachten Vermächtnisses oder einer Schuld, erhalten. Eure Eltern und eure Kinder – ihr wisset nicht, wer von beiden euch an Nutzen näher steht. (Dies ist) ein Gebot von Allah; wahrlich, Allah ist Allwissend, Allweise.
(4:11)

Ebenfalls bezüglich der Abstammung kann die Behandlung durch die Muslime Unterschiedlichkeiten aufweisen. So ist es nach Konsens der Gelehrten (der islamischen Rechtslehre) den Angehörigen des haschemitischen Stammes nicht erlaubt, bei der Verteilung der Zakah (Armensteuer) einen Anspruch zu erheben, und dies, weil sie zum gleichen Stamm gehören wie der Gesandte Allahs -Allah segne ihn und schenke ihm Heil-. Nach der Ansicht einiger Gelehrter gilt dieses auch für den Stamm al-Mutallib.

Im Gegenzug muß ihnen aber bei Schenkungen, die erlaubt sind, eine besondere Demut und Respekt entgegen gebracht werden, eben auch aufgrund ihrer edlen Abstammung.

Als nächstes widme ich mich inschaAllah der Frage, ob wir orthodoxen Muslime progressiv oder konservativ sind.

Nachtrag:

Ich habe noch eine erkenntnisreiche Passage in einem Buch gefunden, die ich gern hier nachtragen würde.

Der Politologe Prof. James Q. Wilson und der Psychologe Prof. Richard Herrnstein veröffentlichten 1985 gemeinsam das Buch „Crime and Human Nature“ (Kriminalität und menschliche Natur). Die folgen Passage stammt aus diesem Buch:

„Wenn eine Gesellschaft in ihrer Sichtweise immer egalitärer wird, wird sie skeptischer gegenüber dem Anspruch, daß der Beitrag einiger Personen dem Wesen nach dem anderer überlegen ist, und damit werden ihre Mitglieder zunehmend bereit, den Ertrag anderer als ungerechten Verdienst zu beschreiben. Es kann kaum Zweifel geben, glauben wir, daß der Trend des Denkens in modernen Nationen sich auf mehr egalitäre Meinungen zubewegt hat, unterstützt in einigen Fällen durch den zunehmenden Glauben unter benachteiligten rassischen, ethnischen und religiösen Minderheiten, daß sie den Respekt, den die früher zollten, nicht mehr schuldig sind; im Gegenteil, nun schuldet die Mehrheitsgruppe ihnen etwas als Wiedergutmachung für vergangene Ungerechtigkeiten. Natürlich können sich  Menschen egalitäre oder sogar Wiedergutmachungsansichten aneignen, ohne kriminell zu werden. Aber am Rande finden einige Individuen – vielleicht jene impulsiven , welche den Produkten einer Wohlstandsgesellschaft besonderen Wert beimessen – diesen Wert plötzlich erhöht, wenn sie sich überzeugen lassen, daß der gegenwärtige Besitzer eines Autos keinen größeren (d.h. gerechteren) Anspruch darauf hat als sie selbst. … eine verlockende, aber isolierte Tatsache legt es nahe, daß internationalisierte Hemmungen sich tatsächlich geändert haben, zumindest in einigen Gesellschaften. Wolpin fand heraus, daß in England der Anteil von Mördern, die vor ihrer Festnahme Selbstmord begingen, im Vergleich zu allen verurteilten Mördern mehr oder weniger stetig fiel, von etwa drei Viertel im Jahr 1929 auf etwa ein Viertel im Jahr 1967.“

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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